Rolf Nagel, Das Hundeauge. Eine deutsche Familiengeschichte, 2020, Insel Verlag, 296 Seiten – Rezensionsexemplar

Der Schauspieler, geboren 1929, erzählt die Geschichte seiner Familie und läßt dabei gleichzeitig einhundertvierzig Jahre deutscher Geschichte Revue passieren. Der Rückgriff auf die Geschichte seiner Eltern, beide Jahrgang 1892, fügt Erläuterungen hinzu und baut Verbindungslinien auf, die die Verläufe des 20. Jahrhunderts und den Kulminationspunkt der NS-Zeit einzuordnen helfen.
Das lesenswerte Buch ist sehr persönlich gehalten, Traumata des Autors spielen eine große Rolle, Entwicklungen und Rückschläge, Brüche und Versöhnungen fügen sich zum Bild eines wechselvollen Lebens. Nagels Eltern sind Anfang Zwanzig, als der Erste Weltkrieg ausbricht. Dessen Ende und die anschließende Umbruchszeit der Weimarer Republik mit ihren Verwerfungen und dem Abgleiten in den Nationalsozialismus, schließlich der neuerliche Krieg, Zusammenbruch und Wiederaufbau sind wichtige Lebensstationen für die beiden und später auch ihre Söhne, die unterschiedliche Lebenswege gehen, aber doch miteinander verbunden bleiben.
Das gut geschriebene und sehr lesenswerte Buch hat bei mir gelegentlich Fragezeichen, aber auch Widerspruch hervorgerufen.
Ohne Zweifel ist das 20. Jahrhundert voller potentiell traumatischer Ereignisse und der Autor hat eine Reihe davon miterlebt. Ob daraus tatsächlich Traumata resultieren, ist dann eine andere Frage. Nagel bleibt hier irgendwie vage, spricht immer wieder von schließlich überwundenen Ängsten. Ich vermochte als Leser nicht klar herauszufinden, ob und inwieweit ihn seine Erfahrungen beeinträchtigt haben.
Pazifismus ist eine ebenso ehrenwerte wie biographisch nachvollziehbare Haltung des Autors. Allerdings trübt sie an manchen Stellen sein Urteil, dessen apodiktisches Vorbringen der Komplexität von Personen oder Situationen nicht immer gerecht wird. Dies betrifft den Ausbruch des Ersten Weltkriegs (S. 31), die Wiederbewaffnung (S. 233, S. 106) oder auch Rudolf Augstein. Während Nagel Helmut Schmidt und Franz-Josef Strauß ankreidet, Oberleutnant in der Wehrmacht gewesen zu sein, erwähnt er nicht, daß Augstein (einige Jahre jünger als die beiden) Leutnant gewesen war und sich in der Redaktion des SPIEGEL ehemalige Frontkämpfer und SS-Männer sammelten, die zunächst stramm rechts waren, Kasernenhofjargon verwandten und mit dem Bundesnachrichtendienst kooperierten, bis das Blatt ab 1957 versuchte, Strauß als Adenauers Nachfolger zu verhindern (dazu Willi Winkler, Das braune Netz. Wie die Bundesrepublik von früheren Nazis zum Erfolg geführt wurde, 2019, S. 288-291), ohne den Stil signifikant zu verändern.
Ungeachtet dessen ein interessantes Buch!