
Halfon, Duell | Modiano, Schlafende Erinnerungen | Foto: nw2020
Ein Blogpost über zwei fast gleichlange Romane, die beide im Jahr 2017 erschienen sind: »Duell« von Eduardo Halfon (dt. 2019, aus dem Spanischen von Luis Ruby), 110 Seiten, und »Schlafende Erinnerungen« von Patrick Modiano (dt. 2018, aus dem Französischen von Elisabeth Edl), 111 Seiten.
Zur Orientierung
Zwei männliche Ich-Erzähler tauchen ein in die Vergangenheit, um alten Geschichten nachzuspüren. Der eine ist Ende Vierzig und sucht in seiner Kindheit und Jugend nach Spuren seines Onkels, der seinerseits als kleines Kind gestorben war. Der andere ist Anfang Siebzig und spürt Erlebnissen und Ereignissen nach, die vor fünfzig Jahren stattfanden.
Halfon hat bislang zwölf Bücher veröffentlicht, von denen drei ins Deutsche übersetzt wurden. Die Geschichte des Ich-Erzähler in »Duell« ist autobiographisch. Modiano, der im Jahre 2014 den Literaturnobelpreis verliehen bekommen hatte, verwendet zumindest Elemente seiner Biographie, wie etwa den Besuch von Internaten außerhalb von Paris, auch in diesem Buch.
Tief ist der Brunnen der Vergangenheit
Eduardo macht sich auf, diesen Brunnen zu ergründen und herauszufinden, ob das stimmt, was man ihm als Kind erzählte, obwohl es doch ein Foto gab, das dagegensprach. Er kehrt nach Guatemala zurück, fährt zum früheren Sommerhaus seiner Großeltern und spricht mit alten Leuten. Das gleicht er ab mit seiner Erinnerung, von der immer neue Schichten freilegt. Auf diese Weise werden Details der Familiengeschichte entfaltet. Wer wie ich den Roman über das Leben seines polnischen Großvaters (Der polnische Boxer) nicht kennt, muß diese Puzzleteile recht mühsam zusammenfügen, nur um am Ende zu erkennen, daß es darauf nicht wirklich ankommt.
Nach meinem Eindruck ist das eigentliche Thema des kurzen Romans das Schweigen. Wozu führt es, wenn Dinge beschwiegen werden? Beschwiegen wird überdies keine Schuld, sondern ein Unglück, ein Schicksalsschlag. Ein Unglück unter vielen, wie sich zeigt, bedeutsam für die unmittelbar betroffenen Personen, für die anderen ein weiterer Fall, den man sich erzählt.
Ist Unbeschwertheit nur möglich, wenn man das Schlimme nicht kennt, oder es zumindest ausblendet, zeitweise ausblenden kann?
Jean wird durch ein Buch mit dem Titel »Zeit der Begegnungen« daran erinnert, daß es vor fünfzig Jahren auch für ihn eine solche Zeit der Begegnungen gab. Im Alter von fünfzehn Jahren, in Begleitung seines Vaters, und dann, fünf Jahre später, als er sich – nur formal als Student eingeschrieben –, durch Paris treiben läßt. Dabei trifft er in Cafés junge Frauen, hat zeitweise Teil an ihrem Leben, verliert sie aus den Augen, begegnet ihnen später wieder oder auch nicht und ist generell sehr ziellos.
Dementsprechend fügen sich die Erinnerungen auch nur zu einem Bild der mehr oder weniger zufälligen Begegnungen, des Sichtreibenlassens. Nach siebzig Seiten wird ein auf den beiden ersten Seiten angesprochener Name und das damit verbundene Geschehen aufgegriffen – ist es der Fluchtpunkt der Erzählung oder nur ein kleines Thema unter vielen?
Zum Stil
Die Autoren gehen ihr Thema sehr unterschiedlich an. Das zeigt sich am Aufbau und Fokus der Erzählung, aber auch an der Sprache. Beiden ist die Neigung eigen, kurze Abschnitte aneinanderzufügen. Dies spiegelt den unregelmäßigen Weg der Erinnerung, die nicht als kompletter Rückschaufilm abläuft, sondern zusammengesetzt und rekonstruiert, zum Teil auch validiert werden muß.
Mir scheint auch, in den Jahren 1963, 1964 verhielt die alte Welt ein letztes Mal den Atem, bevor sie zusammenstürzte wie all diese Häuser und all diese Gebäude in den Faubourgs und an der Peripherie, die kurz vor dem Abriss standen. Uns, die wir sehr jung waren, uns war es gegeben, noch ein paar Monate lang in den alten Kulissen zu leben. (Schlafende Erinnerungen, S. 21)
Mir scheint Modianos Buch anspielungsreicher und literarisch verwobener als dasjenige von Halfon. Möglicherweise spielt Geneviève Dalame auf Genoveva von Brabant an, es gibt schlanke Bezüge zu Proust, zaunpfahlstarke zu Rilke. Leitmotivisch gibt es mehr oder weniger zufällige Wiedersehen nach mehreren Jahren ebenso wie das abrupte Weglaufen. Auch der Netzplan der Metro versinnbildlicht mehrmals untergründige Verbindungen.
Halfon gelingt es, die Erinnerungen aus der Kinderperspektive glaubhaft zu schildern, etwa seine Bar Mitzwa, aber auch die Beziehung zum jüngeren Bruder.
Kritik
Erstaunlich: Beide Bücher haben mir während des Lesens gefallen, aber beide haben beim Nachdenken über sie, beim Versuch sie zu erfassen und vergleichend vorzustellen, stark verloren. Es bleibt der gute Eindruck der Lektüre, die fesselnde Kraft der Worte, die trotz des unspektakulären Charakters der Texte starke Sogwirkung, bei Modiano seine typische Magie. Aber es bleibt auch in beiden Fällen der Eindruck von Enttäuschung, jenes „Das war es jetzt?“ nach dem Schließen des Buches. Letztendlich machen beide auf mich den Eindruck eines Glasperlenspiels.
Die zentrale Passage bei Modiano lautete für mich:
Aber nach einem halben Jahrhundert sind die paar Menschen, die Zeugen waren für unsere Anfänge im Leben, endgültig verschwunden – und übrigens frage ich mich, ob die meisten von ihnen eine Verbindung herstellen würden zwischen dem, was aus einem geworden ist, und dem verschwommenen Bild, das sie bewahrt haben von einem jungen Mann, dessen Namen sie nicht einmal sagen könnten. (Schlafende Erinnerungen, S. 61)