
Eliot Weinberger, Neulich in Amerika | Foto: nw2020
Atlantiker sein
Ich bin Atlantiker, aus Überzeugung und auch aus Sentimentalität. Ich bin in Wiesbaden aufgewachsen, einem bis heute wichtigen Standort der US-Army. Emilia-Earhart-Krankenhaus, Erbenheim-Airbase, Heinerberg-Housing-Area, Raio AFN und vieles mehr gehören zum Sound meiner Jugend ebenso wie Familiengeschichten über das Essen, das meine Großmutter, die auf einem amerikanischen Stützpunkt als Stenotypistin arbeitete, aus der dortigen Kantine mit nach Hause nehmen durfte, damit “your sweet little girl” – meine Mutter – etwas Nahrhaftes bekommen konnte. Freilich mußte das Essen erst als Hundefutter deklariert werden, damit es mit hinaus genommen werden durfte.
Nicht in einem über 1945 hinaus verlängertem Kampf gegen den Bolschewismus – obwohl der innenpolitisch in den 1950er Jahren bestens anschlußfähig war –, sondern in einer Allianz der liberalen Demokratien ist meiner Ansicht nach Deutschland Platz an der Seite Amerikas ebenso wie seiner europäischen Nachbarn. Beides ist angesichts der Geschichte des 20. Jahrhunderts für keines der beteiligten Länder selbstverständlich; es setzt Einigkeit bei den großen Zielen, Kompromißbereitschaft bei den einzelnen Schritten und eine umfassende Bereitschaft zu Gespräch und Zusammenarbeit voraus.
Diese Grundentscheidung steht für mich bis heute nicht zu Debatte. Moskauer Sirenengesänge sowohl zu Sowjetzeiten als auch unter Putin stellen und stellten zu keiner Zeit eine ernstzunehmende Alternative dar. Und wem eine Pax Sinologica erstrebenswert erscheint, dem ist meiner Ansicht nach auch nicht mehr zu helfen.
Dessenungeachtet gab und gibt es politische und militärische Entscheidungen und Handlungen der USA, strukturelle und gesellschaftliche Zustände sowie Ansichten und Verhaltensweisen einzelner Führungspersönlichkeiten, die zu heftigem Widerspruch herausfordern und denen entgegenzutreten ist – durch die Europäische Union, durch die Bundesregierung und die anderen Europäer, aber auch durch jeden einzelnen.
Trump-Kritik
Das wird niemals passieren! Wie konnte das nur passieren? What the f***ing hell is going on there?
Die Bilder, die Interviews, die Tweets, die ganzen Botschaften: schrecklich, egal ob böse oder peinlich, dumm oder hilflos.
Man sucht das „andere Amerika“, ist dankbar für gemeinsame Auftritte der ehemaligen Präsidenten, für die demokrtische Mehrheit im Repräsentantenhaus, für die unermüdlichen Hosts der Late-Night-Shows. Und man greift auf der Suche nach Erklärungen zu Büchern.
Da gibt es einerseits die Rückblicke auf die Präsidentschaft Barack Obamas, die tragischerweise damit zusammenfiel, daß es breiteren Kreisen bewußt wurde, daß nicht mehr Amerika zukünftig den weltweiten Gang der Dinge bestimmen werde, sondern das immer rasanter aufsteigende China. Tobias Endler und Martin Thunert beispielsweise haben im Jahr 2015 Eindrücke gesammelt und zu dem Buch »Entzauberung: Skizzen und Ansichten zu den USA in der Ära Obama« verarbeitet. Ihr gut geschriebenes und vielstimmiges Buch erschien im November 2015; es endete mit einem optimistischen Grundton, daß der nächste Präsident neue Dynamiken entfachen könne. Ta-Nehisi Coates war das nicht mehr möglich. Sein Buch »We were eight years in power. Eine amerikanische Tragödie« ist nicht nur eine breit angelegte Abrechnung mit dem Rassismus, es wurde auch unter dem Eindruck des ersten Amtsjahres von Donald Trump fertiggestellt. In ihrem Buch »Faschismus. Eine Warnung«, das im Jahr 2018 erschien, wird Donald Trump von Madeleine Albright genausooft erwähnt wie Wladimir Putin. Sie teilen sich Platz drei hinter Hitler und Mussolini, vor Stalin und Erdogan.
Eliot Weinberger
Weinberger „ist nicht nur einer der originellsten Essayisten, er ist auch einer der schärfsten politischen Kommentatoren der USA“, heißt es auf der hinteren Umschlagseite. Ein Kritiker wird mit den lobenden Worten zitiert, er sei „ein begnadeter Essayist“.
In der Verlagswerbung für ein anderes Werk Weinbergers im Inneren des Buches wird mehrmals Weinbergers Brillanz beschworen und dann Clemens Setz mit dem Satz zitiert: „Der größte Essayist der Welt wahrscheinlich.“ Spätestens das hätte mich warnen sollen. Aber hatte nicht David Hugendick im Jahr 2009 in der ZEIT geradezu entzückt Weinbergers „funkelnde Prosa“ gelobt?
Nach ein paar chinesischen Weisheiten für Herrscher – wie sie interessanterweise auch Henry Kissinger in seinem Büch über China zitiert – zum Auftakt gibt es tatsächlich zwei Essays (fünfzehn und acht Seiten lang). Danach folgen 220 Seiten mit Fragmenten mit vier bis zwölf Zeilen Umfang, kaum ein Text ist eine Seite lang. Dabei handelt es sich entweder um Zitate Dritter oder um Feststellungen und Beobachtungen des Autors selbst. Alles ist klar geschrieben, freilich ohne jede funkelnde Brillanz.
Natürlich läßt der betont sachliche Ton gewisse Ungeheuerlickeiten umso stärker wirken, etwa die Zustände in den Lagern, in denen Kinder von Einwanderern getrennt von ihren Eltern untergebracht werden. Die Absurdität, Menschenverachtung und Verlogenheit von führenden Republikanern spricht in den präsentierten Zitaten für sich.
Und natürlich ist mir klar, daß und welche inhaltliche Aussage Weinberger mit seiner Montage anstrebt. Aber ist das ein Essay? Eine „geistreiche Abhandlung“?
Mir fällt ein eklatanter Unterschied zu Tony Judt auf, der im Jahr 2006 (»Das vergessene 20. Jahrhundert. Die Rückkehr des politischen Intellektuellen«) dieselben Themen kritisierte wie Weinberger und mit der neokonservativen Politik, wie man das damals nannte, hart ins Gericht ging. Doch wählte er eine wesentlich elegantere Form, die in meinen Augen viel ansprechender ist – und überdies reflektierender, einordnender, abwägender. Judt erscheint mir so als der eindeutig bessere Essayist.