Volker Hagedorn, Der Klang von Paris. Eine Reise in die musikalische Metropole des 19. Jahrhunderts, 2019, 347 Seiten plus 60 Seiten Apparat.

Volker Hagedorn, Der Klang von Paris | Foto: nw2020
Eigentlich sind es nur 46 Jahre, die Volker Hagedorn in den Blick nimmt: Sein Buch setzt 1821 ein, als Hector Berlioz nach Paris aufbricht, und es endet im Jahr 1867, als Berlioz’ Sohn stirbt. Zwei Revolutionen, Julikönigtum und Second Empire markieren die politische Fieberkurve der Epoche, die gekennzeichnet ist von unanständigem Reichtum und bitterer Armut, geprägt von Erfindungen und Entdeckungen, seismographisch erspürt von Musik und Literatur.
Im Zentrum stehen Hector Berlioz (1803-1869) und Giacomo Meyerbeer (1791-1864). Meyerbeer lebte seit 1824 dauerhaft in Paris und wurde zu einem der bedeutendsten Komponisten seiner Epoche, neben Giacchino Rossini (1792-1868). Gaetano Donizetti (1797-1848), Vincenzo Bellini (1801-1835) und Giuseppe Verdi (1813-1901) müssen sich mit Erwähnungen begnügen, wohingegen Richard Wagner (1813-1883) mit dem Scharfblick des Hasses betrachtet und abgewertet wird: Der undankbare Antisemit, der den Tristan-Akkord von Hector Berlioz übernahm, der Meyerbeers Protektion suchte und fand und der als Erfinder seiner eigenen Legende die eigene Erinnerung zurechtbog, um seine Pariser Erfahrungen schlechtreden zu können. Ihm gegenüber sind alle anderen rechtschaffene Diener der Musik mit humanistischen Idealen auf der einen und ernsthaften finanziellen Problemen auf der anderen Seite.
Die wechselvolle Geschichte Frankreichs während der geschilderten Periode, die in seiner Hauptstadt in besonders komprimierter Form sichtbar wird, beschreibt Hagedorn kenntnisreich und in pointierter Anschaulichkeit, dabei politische und soziale Aspekte miteinander verbindend.
Aus Hagedorns Nachwort läßt sich die Absicht erkennen, in der das Buch verfaßt wurde: den Blick auf Übersehenes zu lenken. Während in anderen Darstellungen der Zeit die Musiker kaum vorkommen oder wenn doch, dann aus der Perspektive Richard Wagners, wählt Hagedorn einen dezidiert anderen Zugang. Wie bereits angedeutet, führt das seinerseits zu Verzerrungen, die der Sache nicht wirklich dienlich sind und neue Ungleichgewichte produzieren.
Wenn Hagedorn aber seine politische Mission aus den Augen verliert und sich auf die Sache selbst konzentriert, ist das Buch ganz bei sich und ungeheuer stark. Tonfall und Stil sind wunderbar, lassen Begeisterung und Kenntnis gleichermaßen erkennen. Auch die Faction-Passagen wirken nicht störend. Ganz anders als in Peter Neumanns mißlungenem Buch „Jena 1800. Die Republik der freien Geister“ wirkt hier nichts aufgesetzt und bemüht; alles ist frei von jener gräßlichen Flottheit, die mir jenes Buch verleidet hat.
Hagedorn wandelt auf den Spuren seiner Helden, die bereits zu ihren Lebzeiten gründlich verwischt wurden, fiel doch die grundlegende Umgestaltung von Paris durch Baron Haussmann in diese Zeit. Dabei trifft er oft auf uninformierte und gleichgültige Zeitgenossen, aber auch auf Experten, die sich inbrünstig etwa historischen Pleyelklavieren oder jedem jemals von Berlioz geschriebenen Zeichen widmen.
Sausendes, brausendes Rad der Zeit,
Messer du der Ewigkeit
Diese Gedichtzeilen von Mathilde Wesendonck aus dem Februar 1858 mögen die Erfahrung illustrieren, die Hagedorn bei seinen Recherchen machen muß.
Diese einst europaweit bewunderte Stradivari der Konzertsäle hat die Akustik eines Wäschesacks. (S. 143)
Die kulturelle Bedeutung der Oper, die unbändige Anziehungskraft zeitgenössischer Musik beleuchten diese Zeilen:
Am Montagabend des 16. April muss eine Abstimmung der Nationalversammlung ausfallen: zu viele Abgeordnete befinden sich in der Oper, um die Uraufführung des «Propheten» zu erleben. (S. 217)
Den Wandel in der Musik verknüpft Hagedorn mit einem prägenden Stoff:
Gut 250 Jahre, nachdem Claudio Monteverdi mit «Orfeo» die Oper erfunden hat, 80 Jahre, nachdem Christoph Willibald Gluck sie mit «Orphée et Eurydice» reformiert hat, eröffnet Offenbach mit «Orphée aux Enfers» ein Nebengleis in die Zukunft, auf dem bald Hochbetrieb herrscht: die moderne komische Oper, nicht mehr comique, sondern bouffe, fast durchgeknallt, aus der in Wien die Operette, in den USA das Musical werden. (S. 271f.)
Im Frankreich unter Napoléon III. herrscht natürlich Vorzensur; Hagedorn schildert anschaulich und komisch zugleich die Hürden, die Jacques Offenbach und Eugène Schieb mit ihrem neuen Werk «Barkouf» im Jahre 1860 machen (S. 303ff.). Und selbst hier, wenn er über die Musik Offenbachs schreibt, kann er sich eine eingestreute Nickeligkeit gegenüber Richard Wagner nicht verkneifen.
Wunderbar die Passage über die Uraufführung von Rossinis «Petit Messe solenelle» (S. 33ff.), an die sich das rasche Ableben Meyerbeers anschließt, deren Leichenzug gleichsam zum Staatsakt wird, aber nicht an einer Grabstätte, sondern an einem Bahngleis endet. Denn der als Jakob Liebmann Meyer Beer geborene Komponist will in Berlin beigesetzt werden, der Stadt, in der Heinrich von Treitschke fünfzehn Jahre später die verhängnisvollen Worte „Die Juden sind unser Unglück“ schreiben wird.
Mit einem Blick auf Camille Saint-Saëns (1835-1921), einen Musiker der Zukunft, endet das Buch.
Insgesamt hat Volker Hagedorn ein gutes, ein lesenswertes und lohnendes Buch vorgelegt, das einen speziellen Blick auf das Paris des 19. Jahrhunderts wirft, dabei der genuin französischen Musik der Epoche den ihr gebührenden Rang einräumt, dabei aber in typisch deutschem Furor das Kind mit dem Bade ausschüttet.
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