Stefan Zweig, Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam, 1938, 1951 als Taschenbuch, davon 25. Aufl. 2017, 188 Seiten.
Kurzer Blick
Dies ist eines der bekanntesten historisch-biographischen Bücher Stefan Zweigs, das im englischen Exil entstand, am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, während der Phase, in der das NS-Regime sein wahres Gesicht bereits unverstellt zeigte. Und so besteht das Buch eigentlich auch aus zwei Teilen, die aber ineinander verwoben sind: Die politische Kampfschrift gegen Gewalt und Barbarei des Nationalsozialismus und für ein Europa des Friedens, der Kultur und Geistigkeit auf der einen Seite, und eine biographische Skizze.

Stefan Zweig, Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam | Foto: nw2019
Kritik
Diese biographische Skizze ist aus geschichtswissenschaftlicher Sicht dürftig, als Persönlichkeitsbeschreibung zu schwärmerisch und hagiographisch und als Zeitpanorama eher oberflächlich. Kontur gewinnt die Schilderung des Antipoden Luther, durchzogen von Faszination und Abscheu, die Zweig vornimmt, um vor ihrem Hintergrund seinen Helden umso strahlender in seiner Zerbrechlichkeit zu schildern.
Stark hingegen ist das Buch, wo Zweig die Gedankenwelt des Erasmus abstrahiert und zu einem Programm des Humanismus formt, noch stärker ist es, wo Zweig in klaren, ja beinahe strengen Sätzen und für die Zeitgenossen unzweideutig Anklage erhebt:
Die Gewalt allein hat einen knappen Atem, sie schlägt blind und tollwütig zu, aber ziellos in ihrem Willen, kurz in ihrem Denken, sackt sie nach solchen jähen Ausbrüchen ohnmächtig in sich zusammen. Selbst wo sie ansteckend wirkt und psychotisch ganze Gruppen erregt, werden es nur zuchtlose Rotten, die sich verlaufen, sobald die erste Hitze gekühlt ist. Nie sind im Laufe der Geschichte Aufstände und Ausbrüche ohne geistige Führung einer wirklichen Ordnung gefährlich geworden – erst wenn der Gewalttrieb einer Idee dient oder die Idee sich seiner bedient, entstehen die wahrhaften Tumulte, die blutigen und zerstörenden Revolutionen, denn erst durch eine Parole wird eine Rotte zur Partei, erst durch Organisation zur Armee, erst durch ein Dogma zur Bewegung. (S. 89f.)
Das sitzt. Und weiter heißt es:
Alle großen gewalttätigen Konflikte innerhalb der Menschheit sind weniger verschuldet durch den blutgebundenen Gewaltwillen der Menschheit als durch eine Ideologie, die diesen Gewaltwillen entfesselt und gegen einen vorbestimmten anderen Teil der Menschheit treibt.Erst der Fanatismus, dieser Bastard aus Geist und Gewalt, der die Diktatur eines, und zwar seines Gedankens, als der einzig erlaubten Glaubens- und Lebensform dem ganzen Universum aufzwingen will, zerspaltet die menschliche Gemeinschaft in Feinde und Freunde, Anhänger oder Gegner, Helden oder Verbrecher, Gläubige oder Ketzer; weil er nur sein System anerkennt und nur seine Wahrheit wahrhaben will, muß er zur Gewalt greifen, um jede andere innerhalb der gottgewollten Vielfalt der Erscheinungen zu unterdrücken. (S. 90)
Zweig beendet diese Passage so:
Alle gewaltsamen Einschränkungen der Geistesfreiheit, der Meinungsfreiheit, Inquisition und Zensur, Scheiterhaufen und Schafott hat nicht die blinde Gewalt in die Welt gesetzt, sondern der starrblickende Fanatismus, dieser Genius der Einseitigkeit und Erbfeind der Universalität, dieser Gefangene einer einzigen Idee, der in dies sein Gefängnis immer die ganze Welt zu zerren und sperren versucht. (S. 90)
Daß die Menschen diesen Agitatoren folgen, liegt, so Zweig, auch daran, daß die Humanisten, die Gebildeten, die Fortschrittlichen und Friedfertigen nur mit ihresgleichen reden und es oft gar nicht versuchen, zum Volk durchzudringen, und dieses so eben erst den Verführern überlassen.
Denn gerade dieses Vorbeisehen am Volke, diese Gleichgültigkeit gegen die Wirklichkeit hat von vornherein dem Reich des Erasmus jede Möglichkeit der Dauer und seinen Ideen die unmittelbar wirkende Kraft genommen: der organische Grundfehler des Humanismus war, daß er von oben herab das Volk belehren wollte, statt zu versuchen, es zu verstehen und von ihm zu lernen. (S. 97)
Die Darstellung der schließlich doch stattfindenden Auseinandersetzung mit Luther (S. 150ff.) und der Vorgeschichte (S. 143ff.) gelingt Zweig aufs Großartigste, hier wird auch Erasmus zum Menschen und hier wird Luther – bei aller verbliebenen Abneigung Zweigs – endlich differenziert geschildert.
Heutige Bedeutung
Zweigs Lob einer humanistischen Gesinnung und einer länderübergreifenden, entzündlich weltumspannenden Gemeinsamkeit aller Menschen guten Willens, deren Zahl durch Bildung langsam, aber stetig zu vermehren sei – dies ist als Vision wichtig und aller Anstrengungen wert. Gleichzeitig ist es angesichts der Realität – seiner wie unserer – von einer nicht zu bestreitenden rührenden Hilflosigkeit geprägt.
Der Konflikt hat sich weder seit den Zeiten des Erasmus noch seit denen Adolf Hitlers aufgelöst. Und angesichts der neuen reaktionären, neurechten und teils faschistischen Bewegungen der Gegenwart bleibt wenig, allzu wenig Hoffnung, daß sich nachhaltig etwas geändert haben könnte. Erneut wird das oben erwähnte „Vorbeisehen am Volke“ eine Rolle gespielt haben, so daß allen, den Verführern, den Einfältigen, den Gleichgültigen und den Überheblichen, Schuld zukommt.
Abschließende Bewertung
Mein Eindruck fällt, wie ja deutlich geworden sein dürfte, sehr ambivalent aus. Insbesondere die Kritik an Luther und dessen Tatorientierung erscheint angesichts der Diktaturerfahrung des Nationalsozialismus schwer verständlich. Hier war mit Zuwarten und Aufklärung nichts getan. Die Hellsichtigkeit des Erasmus, der mit Blick auf Luther von der Notwendigkeit eines „so rauhen Wundarzt[es]“ spricht (S. 120f.), bleibt Zweig mit Blick auf seine Zeit insoweit versagt. Mit an Schillers Glocke gemahnenden Wendungen warnt Zweig vor den Begleiterscheinungen und Folgen einer Revolution, wie Josef Ratzinger in seinen besten Tagen sieht er in der Reformation Zerfall und Spaltung.
Die durchgängige Idealisierung des Erasmus von Rotterdam, die Zweig vornimmt, ist ebenso problematisch. Immerhin fällt sie ihm selbst gelegentlich auf, aber er beläßt es meist dabei. Auf S. 140-143 modelliert er das zwiespältige Verhalten, die Ausflüchte sehr anschaulich heraus. Zweig schließt sich Erasmus‘ Forderung nach Ruhe und Frieden um jeden Preis an. Utopisch bleibt Zweigs Sicht (S. 168), und es ist Erasmus selbst, der die Utopie zerstört, weil er eben nicht auf dem Augsburger Reichstag den gordischen Knoten zerschlägt und die Verständigung adelnd ermöglicht:
[H]ier erneuert sich seine historische Schuld. (S. 175)
Das Schlußkapitel vergleicht Humanismus und Machiavellismus und spürt der Nachwirkung des Erasmus, dem Überdauern seiner Ideen nach und wird zum klangvollen Friedensappell. Offen bleibt naturgemäß, ob Zweig die Widerstandstat gefordert und unterstützt hätte. Vernichtungskrieg und offener Völkermord liegen noch vor dem Autor und seinen Lesern.
Ein zum Nachdenken anregendes, auch zum Widerspruch reizendes Buch.