Zwei junge Frauen, zwei Familien, zwei Familiengeschichten – durch einen Zufall des Lebens miteinander verbunden. Souverän entfaltet Elif Shafak in »Der Bastard von Istanbul« (2006, dt. 2015; aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller) dieses doppelte Familienepos auf nur 464 Seiten. Armenische Vergangenheit und türkische Gegenwart treffen aufeinander; Exilerfahrungen der Armenier und der Kampf zwischen Moderne und Tradition in der Türkei fließen in die Erzählung ein.

Elif Shafak, Der Bastard von Istanbul | Foto: nw2019
Der Bastard von Istanbul: Die Handlung
Asya Kazanci, die junge Türkin, und Armanoush Tchakhmakhchian, die junge Amerikanerin mit armenischen Wurzeln, kommen aus matriarchalischen Familien. Sie sind ausgerechnet über Mustafa Kazanci miteinander verbunden, den einzigen Sohn der Kazancis, der in die USA geschickt wurde, damit er überlebt. Rose aus Kentucky heiratet ihn, nachdem ihre Ehe mit einem Armenier – oder besser gesagt mit seiner Familie – gescheitert war. Armanoush oder Amy wächst in zwei Welten auf, bis sie sich daranmacht, eine dritte zu entdecken, und in die Türkei, nach Istanbul fährt. Dort taucht sie in eine Gegenwart ein, die ihre Vergangenheit nicht kennen will.
Eine überraschende Wendung zum Ende hin verleiht dem Buch eine für meinen Geschmack etwas aufgesetzte Dynamik, die sich dann zu einer dramatischen – freilich schon absehbaren – Enthüllung steigert. Und auch die persönliche Vergangenheit, die Verkettung der beiden Istanbuler Familien, kommt ans Licht.
Zum Stil des Romans
In ausgreifenden Schilderungen beschreibt Shafak Personen und Orte, Farben und Düfte, Speisen und Gerüche. San Francisco und Istanbul erweisen sich als dankbare Schauplätze. Die zahlreichen Frauengestalten sind allesamt mit Marotten und Schrulligkeiten ausgestattet. Viele sind unverheiratet und kinderlos, was einerseits ihre gesellschaftliche Stellung mindert, ihnen aber andererseits Unabhängigkeit und Überlegenheit verleiht. Die wenigen Männer, die in diesen Kokon vordringen, haben trottelhafte Züge.
Zentraler Ort der armenischen wie der türkischen Familie ist der Eßzimmertisch, der stets reich gedeckt ist. Das Speisenangebot in beiden Familien ist nahezu identisch. Im großen Kontrast hierzu steht die Welt von Rose, Armanoushs Mutter, die durch die Klischees Supermarkt, Mikrowelle, SUV und Fernseher charakterisiert wird. Mustafa, der entwurzelte Stiefvater, der aus der Türkei zum Überleben in die USA geschickt wurde, weil ein Fluch auf den männlichen Mitgliedern der Familie Kazanci liegt, hat als unvorbereiteter Selbstversorger ein freudloses Leben geführt. Ob es sich an Rose’ Seite verbessert hat, bleibt offen – als Mann bleibt er lange eine Randfigur.
Gegenorte zum strukturierten, gleichwohl chaotischen Raum der Familie sind für die beiden jungen Frauen einerseits die unstrukturierten Städte Istanbul und San Francisco sowie andererseits zwei Cafés. Asya besucht das reale „Café Kundera“ in Istanbul, Armanoush das virtuelle „Café Constantinopolis“. Im letzteren versammeln sich Exil-Armenier unter Pseudonym, ersteres ist eine Begegnungsstätte prägnanter Typen, die ein Panoptikum unglücklicher Türken bilden, allesamt Außenseiterexistenzen. Mit sprechenden Beinamen bedacht, charakterisieren sie die Schwierigkeiten eines Volkes, zwischen Ost und West, zwischen Tradition und Moderne. Der Trunksüchtige Karikaturist, der Heimlich Schwule Kolumnist, der Nichtnationalistische Drehbuchautor Ultranationalistischer Filme – sie räsonieren über die Türkei, das Türkentum und die Türken, geben der Haßliebe für die Stadt Istanbul und das Land, für Stadt- und Staatsführung Worte.
Das Aufeinandertreffen von Rollenbildern und Klischees, von kulturellen Mustern und wechselseitigen Erwartungen – sowohl zwischen Amerikanern und Armeniern als auch zwischen der amerikanischen Armenierin und den Türkinnen sowie einem in der Türkei lebenden Armenier – wird meist recht explizit geschildert, hier hätte ich mir mitunter etwas mehr Raum zum Selbstdenken gewünscht.
Der Text wird von einem allwissenden Erzähler auf konventionelle Weise erzählt, es gibt keine sprachlichen Experimente und keine darob verlorenen Leser. Die Autorin hält den Plot zusammen und bringt ihre wissenschaftliche fundierte Botschaft unter. Am Ende wird für meinen Geschmack dann zuviel Handlung untergebracht, wobei die losen Enden dann recht hektisch zusammengebunden werden. Da war mir der breitere Erzählstrom zu Beginn lieber. Ungeachtet meiner Kritikpunkte handelt es sich dennoch um ein gut gemachtes Buch.
Die Botschaft der Autorin
Die 1971 geborene Autorin wuchs als Tochter einer Diplomatin und eines Soziologieprofessors mit Stationen im Ausland und einer kosmopolitischen Prägung auf. Sie wurde mit einer Arbeit über “An Analysis of Turkish Modernity Through Discourses of Masculinities” in Ankara promoviert und forschte zunächst an einer us-amerikanischen und gegenwärtig an einer britischen Universität. Sie lebt mit ihrer Familie in Istanbul und London.
Im Jahr 1994 veröffentlichte sie ihre erste Erzählung, der erste Roman folgte 1997. Der 2006 erschienene »Bastard von Istanbul« führte zu einem Strafverfahren in der Türkei, das allerdings mit einem Freispruch endete.
Diese biographischen und wissenschaftlichen Informationen decken sich mit der Botschaft des Romans, der eine Analyse der türkischen Gesellschaft vornimmt, indem er das Geschlechterverhältnis, den Umgang mit der Vergangenheit und das Schwanken zwischen den Welten thematisiert. Anziehung und Abstoßung, Nähe und Distanz, Vertraut- und Fremdheit – der Text kreist um viele Pole. Zur Position “Right or wrong, my country” will sie sich nicht durchringen und mutet sie auch ihren Hauptfiguren nicht zu. Kritik bedeutet nicht Lossagung, so die Botschaft. Rebellion gegen Normalität und das Aushalten von Gegensätzen sind Teil des Lebens; die Romanfiguren veranschaulichen dies in Wort und Tat.
Wer weiß, wie gereizt die offizielle Türkei darauf reagiert, auf den Genozid an den Armeniern angesprochen zu werden, kann sich vorstellen, wie wenig die subtilen Liebeserklärungen der Autorin angesichts ihrer gleichzeitigen, schonungslosen Offenheit verfangen haben.
Das Dilemma der Aufklärung, mit dem der Westen gegenwärtig immer offensichtlicher konfrontiert ist, nämlich angesichts Globalisierung und entfesseltem Kapitalismus kein für alle Gesellschaftsschichten ausreichend bindekräftiges Identitätsangebot mehr machen zu können, beläßt Shafak auf der persönlichen Ebene.
Mein Leseeindruck zum »Bastard von Istanbul«
Der auktoriale Erzählstil wird konventionell gehandhabt; es gelingt der Autorin, Atmosphäre, Handlungen, Gespräche und Gedanken eindringlich und nachvollziehbar zu präsentieren. Die Darstellung ist durchzogen von Humor und Ironie, aber auch von tief verwurzelter Verbundenheit mit ihrem Gegenstand. Höhepunkt ist die Darstellung der Pogromnacht, die in eine Art Traumerzählung verpackt wird.
Klare Leseempfehlung, die – mutatis mutandis – auch zum Nachdenken über Deutschland, den Umgang mit der Vergangenheit sowie das Eigene und das Fremde anregen kann.
Deine Kritikpunkte teile ich, am Ende war mir das alles „zuviel“ – aber dennoch, man kann das Buch guten Gewissens empfehlen, vor allem, da es eben diesen Konflikt Türken-Armenier, der vielen von uns gar nicht bewußt ist, in eine gute Handlung einbettet. War mein erster Roman der Autorin und sicher nicht der letzte.