Olivia Manning, Der größte Reichtum, 1960, dt. 2020 (Neuübersetzung aus dem Englischen von Silke Jellinghaus), Rowohlt Hundert Augen, 463 Seiten.

Der Roman erschien 1960 unter dem Titel „The Great Fortune“, er wurde in gekürzter Form auf Deutsch als „Im Fluß der Zeit“ veröffentlicht. Es handelt sich um den ersten Band der sogenannten Balkan-Trilogie, in der die Autorin persönliche Erfahrungen verarbeitet.
Ein junges englisches Ehepaar lebt zu Beginn des Zweiten Weltkrieges in Bukarest, wo der Mann, Guy Pringle, als Dozent für englische Sprache an der Universität arbeitet. Seine Frau Harriet hat ihn nach der Hochzeit in London dorthin begleitet und muß sich in sein Leben in der rumänischen Hauptstadt einfinden.
Das Buch lebt von Ambivalenzen und Gegensätzen. Rumänien liegt in der europäischen Peripherie, aber Bukarest sieht sich als europäische Metropole. Das Land ist reich an Rohstoffen, aber die Mehrheit der Bevölkerung vegitiert in schreiender Armut. Guy liebt seine Frau, kümmert sich aber vor allem um andere Menschen. Die Pringles müssen sparen, aber Guy ist sehr freigiebig. Die 21-jährige Harriet wird als freigeistig und selbständig geschildert, aber sie ist natürlich gefangen im Denken der Konvention.
Manning beschreibt genau und plastisch: Stimmungen, Personen, Orte – alles wird sehr lebendig und eindringlich geschildert. Als Leser rutscht man gleichsam in die Geschichte hinein, und es fühlt sich an als kennte man die Pringles schon sehr gut, aber auch viele der zahllosen Nebenfiguren.
Die geschilderten Typen sind skurril, ihre vielfältigen Vergnügungen – die im Laufe der Handlung weniger werden – erscheinen wie ein Tanz auf dem Vulkan. Doch kriegsbedingte Mangelwirtschaft und fehlendes Geld engen die Spielräume stetig ein.
Am Ende steht – sehr englisch! – eine Laienaufführung von Shakespeares „Troilus und Cressida“, deren triumphaler Erfolg freilich von der bloßen Nachricht der Einnahme von Paris durch die Wehrmacht aus dem kollektiven Bewußtsein gestrichen wird.
Dies ist ein gut lesbarer, flüssig erzählter Roman. Ich habe gerne und gefesselt in den Buch gelesen. Der andere Blickwinkel auf den Zweiten Weltkrieg von der südostlichen Peripherie Europas aus ist interessant, die Kritik an den Zuständen vor Ort ist recht klischeebeladen. Die Gruppe der britischen Expats versammelt eine Reihe wunderlicher Typen, deren Zusammentreffen die Handlung würzt.
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