William Boyd, Eine große Zeit, 2012, dt. 2012 (aus dem Englischen von Patricia Klobusiczki), 446 Seiten.

Nach der nun schon etwas länger zurückliegenden Lektüre von „Des Fremden Kind“ (erschienen 2012) und „Der Wintersoldat“ (erschienen 2018) liegt mit „Eine große Zeit“ erneut ein Roman, der in der Zeit des ersten Weltkriegs angesiedelt ist, konkret 1913-1915, vor mir. Hinzu kommen „Der Wald der Gehenkten“ (1925/2018) und „Das fehlende Glied in der Kette (1919/2019), die ich ebenfalls unlängst las. Natürlich ist jedes Buch anders, aber in der Summe vermitteln sie dem Leser doch ein Gefühl für die Zeit – oder jedenfalls unserer Vorstellung davon.
Boyds Roman ist flüssig und elegant geschrieben, dazu mit einer guten Prise Humor ausgestattet.
Diese Pension – die Pension Kriwanek – ist genau wie Wien. An der Oberfläche befindet sich die Welt von Frau K. So angenehm und erfreulich, alle lächeln höflich, niemand furzt oder popelt in der Nase. Aber darunter fließt ein dunkler, reißender Strom.
Was für ein Strom?
Der Strom der Lust. (S. 40)
Es dauert zwar noch, bis der Protagonist Lysander Rief tatsächlich Siegmund Freud begegnet, aber in Therapie geht er von Beginn an, denn sie ist der Grund für seinen Aufenthalt, will er doch eine sexuelle Störung beenden.
Wien als erster Ort der Handlung setzt den Ton und liefert den Schlüssel für spätere Entwicklungen.
Aber sicher – du musst nämlich wissen, Lysander, dass der Freitod hier in Wien, in unserem verfallenden Kaiserreich, als vollkommen vernünftige Lösung gilt. Jeder wird verstehen, was in einem vorgegangen ist und warum man keine andere Wahl hatte – niemand wird einen deswegen verdammen. (S. 64)
Lysander Rief hadert gelegentlich mit seiner unvollständigen und unsystematischen Bildung, kann aber als Schauspieler Lücken überspielen und ansonsten auf seinen gesunden Menschenverstand und eine schnelle Auffassungsgabe vertrauen. Vor dem Besuch einer Vernissage geht er noch rasch in ein Museum, um sich auf Smalltalk über Kunst vorzubereiten.
Und was war das? ‚Überfall auf einen Wagenzug‘ von Philips Wouwerman. Kraftvoll, abgründig, dunkelhäutige Räuber, die mit silbernen Entermessern und spitzen Hellebarden angriffen. „Sind Sie mit Wouwermans Werk vertraut? Es hat eine ungeheure Wucht.“ (S. 71)
Die in der Tradition des Schelmenromans angelegten Episoden haben erkennbar nicht die Intention, jede Wendung auszuerzählen. Fragen bleiben unbeantwortet, manche Antworten sind brüchig. Der Roman spielt im Ersten Weltkrieg und die Moderne hat begonnen. Dabei gelingt es dem Autor, eine gute Geschichte zu erzählen, mit Spannungsbögen, Höhepunkten, überraschenden Wendungen und starken Figuren.
Für mich war das gute Unterhaltung, handwerklich sicher ausgeführt. Ich hatte freilich auch keinen Welterklärungsroman erwartet.
Für mich als Fan von historischen Romanen klingt „Eine große Zeit“ wirklich super interessant. Und auch die Ausschnitte, die du hier gepostet hast, hören sich echt überzeugend an. Das Buh kommt definitiv auf meine Leseliste!