
Foto: nw2016
Der Atlantik-Verlag brachte 2015 aus Anlaß des 125. Geburtstags von Agatha Christie eine Reihe ihrer Kriminalromane in neuer Übersetzung heraus. Ich erhielt ein Exemplar des klassischen Hercule-Poirot-Romans »Das unvollendete Bildnis« zugeschickt. Da ich in einer frühen Phase meines Leselebens alle Romane von Agatha Christie gelesen habe, konnte ich mein altes Taschenbuch aus dem Regal ziehen und danebenlegen. Mehr zum Vergleich der Übersetzungen siehe am Ende der Besprechung.
Ein Mordfall, der vor sechzehn Jahren geschah, soll aufgeklärt werden. Die Tochter der als Täterin Verurteilten ist volljährig geworden und will mit der Gewißheit in ihr Erwachsenenleben treten, daß ihre Mutter unschuldig war.
Hier sind Opfer, Täter, Verdächtige und Detektiv nicht zusammen an einem Ort, sondern der Detektiv rekonstruiert das längst vergangenen Geschehen nur durch Gespräche mit den damals Beteiligten, die ihm überdies schriftliche Zusammenfassungen liefern, und fügt aus den solcherart erhaltenen Informationen, die auch der Leser sämtlich kennt, die Lösung zusammen. Die Frage ist stets, ob man die Hinweise richtig zu deuten versteht und als Leser mit dem Detektiv Schritt halten kann.
Christies Figuren stellen unterschiedliche Typen dar, die aus dem kontrastierenden Vergleich besondere Farbigkeit gewinnen; dies gilt nicht zuletzt für den Gegensatz zwischen den Engländern und Poirot, dem Ausländer (Knöpfstiefel! Extravaganter Schnurrbart!).
Die Auflösung gelingt Poirot durch bloßes Nachdenken, er ist bekanntlich kein Detektiv, der Zigarettenstummel aufhebt. Es kommt am Schluß zum Zusammenführen der Beteiligten, Poirot entwickelt seine Theorie, enthüllt Verborgenes und benennt am Ende den Täter. Als Jugendlicher war ich meiner Erinnerung nach meist überrascht von der Lösung, mit gewachsener Lebens- und Leseerfahrung kann bei solcherart konstruierten Kriminalromanen nur eine Lösung plausibel sein, selbst wenn man nicht jedes Detail so erklären kann, wie der Detektiv.

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Was bringt die Neuübersetzung?
Für sich betrachtet, fiel mir nichts besonderes an ihr auf. Beim vergleichenden Anlesen wirkt der ältere Text lakonischer. Das genauere Hinsehen macht es deutlich:
2015 |
1957 |
Hercule Poirot betrachtete die junge Frau, die eben in sein Zimmer geführt wurde, mit Interesse und Wohlgefallen. In ihrem Brief hatte nichts Genaues gestanden, lediglich die Bitte, ihn aufsuchen zu dürfen, ohne dass der Grund für ihren Besuch genannt worden wäre. Es war ein kurzes, geschäftsmäßiges Schreiben gewesen. Aufgrund der forschen Handschrift hatte er geschlossen, dass Carla Lemarchant eine junge Frau war.
Nun stand sie in Fleisch und Blut vor ihm – groß, schlank, Anfang zwanzig. Eine Frau, die die Blicke auf sich zog. Sie trug ein teures, elegant geschnittenes Kostüm und einen luxuriösen Pelz. Sie hielt den Kopf aufrecht, hatte markante Augenbrauen, eine schmale Nase und ein energisches Kinn. Sie wirkte sehr lebendig. Ihre Lebendigkeit war noch ausdrucksstärker als ihre Schönheit. Bevor sie eingetreten war, hatte Hercule Polrot sich alt gefühlt – nun aber fühlte er sich jung, lebendig und voller Tatendrang! (S. 9) |
Wohlgefällig betrachtete Hercule Polrot das junge Mädchen, das in sein Zimmer trat.
Aus dem kurzen sachlichen Brief, mit dem Carla Lemarchant sich angemeldet hatte, war der Grund ihres Besuches nicht hervorgegangen; aber an der Handschrift hatte Polrot erkannt, daß es sich um ein junges Mädchen handeln müsse. Nun stand sie in Fleisch und Blut vor ihm, groß, schlank, Anfang Zwanzig, eine junge Dame, nach der man sich auf der Straße umdreht. Sie trug ein tadellos geschnittenes Kostüm und einen kostbaren Pelz, hatte starke Brauen, eine wohlgeformte Nase, ein energisches Kinn und machte einen lebhaften Eidruck; diese Lebhaftigkeit war noch augenfälliger als ihre Schönheit. Bevor sie kam, hatte sich Polrot alt gefühlt, nun aber war er verjüngt, frisch, gespannt. (S. 5) |
„Er war ihr genauso zugetan wie sie ihm?“
„Sie liebten sich sehr. Aber er war natürlich ein Mann.“ Das letzte Wort sagte Miss Williams mit einem Unterton viktorianischer Sittenstrenge. „Männer…“, sagte Miss Williams, dann unterbrach sie sich. Sie sagte das in demselben Ton, mit dem ein reicher Großgrundbesitzer „Bolschewiken“, ein überzeugter Kommunist „Kapitalisten“ oder die Hausfrau „Küchenschaben“ sagt. Die alte Jungfer und ewige Gouvernante entpuppte sich als grimmige Frauenrechtlerin. Für sie – das machte ihr Ton zweifelsfrei deutlich – waren die Männer der Feind! „Sie halten nichts von Männern?“, fragte Poirot. Trocken erwiderte sie: „Die Männer haben alle Vorteile auf dieser Welt. Ich hoffe, das wird nicht immer so sein.“ Hercule Poirot betrachtete sie interessiert. Er stellt sich vor, wie sie sich zielstrebig und gekonnt an ein Geländer kettete und dann mit Verbissenheit und Ausdauer einen Hungerstreik durchführte. (S. 127) |
„Er liebte sie ebenso wie sie ihn?“
„Sie liebten sich sehr, aber er war eben ein Mann.“ Die alte Jungfer, die lebenslange Gouvernante, entpuppte sich als eine wilde Frauenrechtlerin; für sie war der Mann der Feind! „Sie halten nichts von Männern?“ erkundigte sich Poirot. „Die Männer haben alle Vorteile in dieser Welt,“ antwortete sie trocken, „und ich hoffe nur, daß das nicht immer so bleiben wird.“ Poirot zog vor, darüber nicht zu diskutieren. (S. 81) |
Sie verkörperte jedoch nicht den von Poirot bevorzugten Frauentyp. Wohl bewunderte er ihren scharfen, klaren Verstand, doch war sie ihm eine nuance zu sehr die femme formidable, die ihn als Mann beunruhigte. Er neigte eher zu den üppigen, extravaganten Frauen. (S. 147) | Sie war nicht der Typ Frau, den Poirot liebte. So sehr ihm ihr klarer Geist imponierte, fand er sie doch zu wenig fraulich. (S. 89) |
Insgesamt hat sich die Neuübersetzung also durchaus gelohnt!
Mein Fazit:
Wer weder Blutlachen noch Gewaltorgien oder grausige Szenarien braucht, sondern schlicht einen Mord selbst aufklären oder dem Meisterdetektiv dabei zusehen möchte, der liegt bei Agatha Christie und Hercule Polrot – aber auch bei Miss Marple! – immer richtig.
Der ältere Text wirkt im Vergleich geradezu geschwätzig. Außerdem ist er natürlich geprägt von der Zeit, in der er entstanden ist – und die für heutige Leser weit weg ist. Da ist es schon gut, wenn die Sprache modernisiert wird – aber würden wir das mit einem Karl May auch tun?
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