James Sheehan, Kontinent der Gewalt, Europas langer Weg zum Frieden, 2008, 273 S. plus 40 Seiten Apparat.
Der 1937 in San Franzisko geborene Sheehan war in Stanford Professor für moderne europäische und deutsche Geschichte als der Nachfolger von Gordon A. Craig. Das Buch stellt eine summa seiner späteren Forschungen dar; begonnen hatte er mit Untersuchungen zur Museumsgeschichte.
Die knappe Darstellung ist glänzend geschrieben und gut übersetzt (Martin Richter). In drei Schritten geht Sheehan voran: 1900-1914, 1914-1945 und die Zeit nach 1945. Er folgt damit dem Ansatz, Ersten und Zweiten Weltkrieg in einen engen Zusammenhang zu stellen. Unter dem Paradigma von (militärischer) Gewalt und gesellschaftlicher Gewaltsamkeit ist das nachvollziehbar. Neuere Forschungsansätze plädieren dafür, den Ersten Weltkrieg nicht nur aus der Perspektive des Zweiten Weltkriegs zu erklären – in diese Falle tappt der wohlinformierte Autor freilich auch gar nicht.
Sheehan beleuchtet manche Details sehr interessant. Bei der Zabern-Affäre legt er dar, daß es eine außerordentlich niedrige Toleranzschwelle für öffentliche Gewalt gegeben habe – tatsächlich wurde nur ein einziger Säbelhieb geführt. Während Friedlichkeit und Sicherheit in Europa einen hohen Stellenwert hatten, wurde bei Kolonialkriegen schrankenlos Gewalt eingesetzt. Der Autor führt das auf das Fehlen echter militärischer Ziele zurück, letztendlich sei es darum gegangen, den Willen der kolonisierten Völker durch Terror zu brechen. Die Entfesselung vergleichbarer Gewalt dann im europäischen Krieg sei eine unerwartete Erfahrung gewesen. Churchill sprach von einem „Kampf der Nationen auf Leben und Tod“.
„Ich weiß nicht, was zu tun ist. Das ist kein Krieg,“ so Lord Kitchener als britischer Kriegsminister ratlos an der erstarrten Westfront. Jahrelang wurden hunderttausende junge Männer auf beiden Seiten in den Tod geschickt, nennenswerte Geländegewinne gab es keine. Der im Ergebnis wirkungslose nicht enden wollende Artilleriebeschuß verpulverte jede neue Kriegsanleihe.
Die internationalen Beziehungen waren durch den Krieg vergiftet, Vertrauen zerstört und Kooperation erschwert worden. Sheehan beschreibt die Zwischenkriegszeit als zwanzigjährigen Waffenstillstand. Der dann von Hitler gewollte Zweite Weltkrieg löste keine Begeisterungsstürme, kein Endlich! aus – schließlich hatten die meisten Menschen nun eine Vorstellung von dem, was kommen könnte.
Besonders interessant sind der dritte Teil über den Kalten Krieg und der Schlußabschnitt über die Zeit danach. In Europa, so Sheehans These, sei die einstmals konstitutive Verbindung von Staat und Armee unwiederbringlich dahin, so daß Europa in Gestalt der Europäischen Union zwar ein ziviler Superstaat werden könne, aber keine Supermacht.
Ein Buch, das zum Nachdenken anregt und sich, den Blick erweiternd, gut in mein Leseprojekt zum Ersten Weltkrieg einfügt.
Siehe auch: Enzo Traverso, Im Bann der Gewalt
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