„Wilhelm kam nunmehr in die Jahre, wo die körperliche Kräfte sich meist zu entwickeln anfangen, und wo man oft nicht begreifen kann, warum ein witziges und munteres Kind zusehends dumpf, und unbetulich wird. Er las nunmehro viel, und fand in Komödien immer seine beste Befriedigung, und was er von Romanen las, konnte er nicht umhin, in seinem Sinne zu Schauspielen umzubilden. Er war in dem Wahn, daß alles, was in der Erzählung ergötze, vorgestellt noch viel treffender sein müsse. Auch wenn er etwa den Abriß einer Welt und Staaten Geschichte in der Schule durchlesen mußte zeichnete er sich sorgfältig aus, wo einer auf besondere Weise erstochen oder vergiftet wurde, weil sich, nach seiner Vorstellung, dieses zu einem fünften Akt gar trefflich qualifizierte, denn die vier vorhergehende bracht er in seinen Kompositionen nicht leicht in Anschlag, weil er sie in keinem Stück jemals gelesen hatte. Seine Kameraden die in den Geschmack von Agieren gekommen waren veranlaßten ihn manchmal Rollen auszuteilen, und er, der eine sehr lebhafte Vorstellungskraft hatte, und sich in alle Rollen denken konnte, glaubte er könne sie auch alle vorstellen, er nahm daher meistens die sich am wenigsten für ihn schickten, und wenn’s nur einigermaßen angehen wollte gewöhnlich ein paar Rollen. Es ist ein Zug der Kindheit aus allem alles machen zu können, sich [durch] die augenscheinlichsten Quiproquos nicht irren zu lassen. So spielten unsere Knaben fort, und jeder dünkte sich genug. Sie führten erst Stücke von bloß Mannspersonen auf, deren es nun nicht viel gibt, verkleideten nun bei andern einige aus ihrem Mittel und zogen zuletzt die Schwestern mit ins Spiel. In einigen Häusern sah man’s als eine nützliche Beschäftigung an, lud Gesellschaften drauf. Ein verwandter Hagestolz, der sich Kenner zu sein ausgabe, mischte sich drein, lehrte sie wie sie sich stellen, deklamieren und abgehen sollten, mit welchem Unterricht Wilhelm meist übel zufrieden war, weil er sich dünkte, es immer noch besser zu machen, als der es anwies. Sie fielen gar bald aufs Trauerspiel, sie hatten gar oft sagen hören, und glaubten es selbst, es sei leichter, ein Trauerspiel als ein Lustspiel zu machen und vorzustellen, und waren auch durchgehends bei jenem zufriedner als bei diesem, weil hier das Platte, Abgeschmackte, Unnatürliche gar schnell in die Augen fiel, dort aber sie sich selbst als erhabne Wesen vorkamen, und nichts war, das ihnen [das] Schwülstige Affektierte, Übertriebne ihrer tragischen Aktion mißbilligte, besonders da sie im gemeinen Leben bemerkt hatten, daß viele Personen die nichts bedeuten sich durch ein steifes Betragen und fremde Grimassen ein Ansehen zu geben glauben.
Knaben und Mädgen waren in diesem Spiele nicht lange beisammen, als die Natur sich zu regen und die Gesellschaft sich in verschiedene kleine Liebesgeschichten zu teilen anfing, da denn meistenteils Komödie in der Komödie gespielt ward. Die glücklichen Paars kneipten sich hinter den Theaterwänden die Finger fast ab, und verschwammen in Glückseligkeit wenn sie sich einander so geschminkt und aufgebändert noch einmal so idealisch und schön vorkamen, indes gegen über auf der anderen Seite die unglückliche Nebenbuhler sich für Neid verzehrten, und oft in kindischem Trotz und Schadenfreude ein und andre Stellen verdarben, oder verderben machten. Bei solchen Gelegenheiten zeigte sich immer Wilhelms Direktorial Qualität in ihrem Glanze, denn wenn er in den Proben dergleichen Zwiste in Güte beizulegen suchte, nachgiebig war, und über manches ein Auge zutat, wenn sie sich nur sonst sich Mühe gaben, und ihre Rollen wohl auswendig wußten, so verstand er doch am Tage der Aufführung keinen Spaß, und so bald er in Halbstiefeln, in königlichem Mantel und diadem hinter dem Vorhang stund, durfte nichts profanes und läppisches vorfallen, und wehe dem, der ihm etwa in einer neronischen Stimmung in die Quere kam, der wurde gewiß mit so einem gräßlichen Blick, mit so viel Würde des Arms, und Festigkeit der Stimme in seine Schuldigkeit zurückgeschröckt, daß für diesmal wenigstens Ruhe ward.“
Wilhelm Meisters theatralische Sendung, (abgeschlossen) 1786, 1. Buch, 10. Kapitel
Münchner Ausgabe Bd. 2.2, 1987, S. 26ff.