
… und Marmorbilder stehn und sehn mich an
was hat man dir, du armes Kind, getan?
Schon am Anfang meiner Lektüre ist mir dieser Goethevers eingefallen, und er hat an Dringlichkeit gewonnen, je weiter ich mit ihr vorankam. Was ist geschehen? Welche Veränderungen sind eingetreten – und warum?
Auch Piranesi, den wir als objektiven Hüter und wissenschaftlichen Betrachter des Hauses kennenlernen – denn als solchen führt er sich ein, und wir haben nur sein Wort –, auch Piranesi beginnt sich, Fragen zu stellen, als er im Laufe der Zeit auf Unstimmigkeiten aufmerksam wird und Veränderungen beobachtet. Ist Piranesi ein unzuverlässiger Erzähler oder selbst eine Schachfigur, die ein anderer bewegt?
Die Geschichte, die das Buch erzählt, birgt ein Rätsel, das im Laufe der Erzählung gelöst wird. Das Buch beschreibt aber auch und vor allem einen Raum, das Haus, wie Piranesi es nennt, und das aus vielen, unendlich vielen Hallen besteht. Piranesi durchwandert und erfaßt sie systematisch, einschließlich der darin aufgestellten Statuen. Das weitläufige Haus, das die Welt ausmacht, ist mit dem Meer und dem Himmel verbunden, es gibt Fische und Vögel.
Hauptfiguren sind Piranesi und der von ihm so genannte „Andere“ (derihn Piranesi nennt), die beide das Haus bewohnen, aber bis auf zwei Treffen pro Woche jeweils getrennte Wege gehen. Während Piranesi sich im Laufe der Zeit an die Lebensbedingungen des Hauses angepaßt und nach und nach zivilisatorische Gepflogenheiten hinter sich gelassen hat, verfügt der Andere über den Zugang zu Kleidungsstücken, schneidet sich Haare und Bart und benutzt ein elektronisches Endgerät.
Die beiden Männer sehen sich als Wissenschaftler und erachten ihre jeweiligen Tätigkeiten, auf die nicht näher eingegangen wird, als wichtig. Jedenfalls läßt Piranesi das die Leser des Buches, die gleichzeitig seine Aufzeichnungen lesen, glauben. Oder präziser, er präsentiert uns seine Annahmen, die sich im Verlauf der Geschichte zum Teil als falsch oder unvollständig herausstellen.
Neben Goethe denke ich beim Lesen immer wieder an Platon und an sein Höhlengleichnis.
Isolation, Weltwahrnehmung und Welterklärung, Ergebenheit in das eigene Schicksal und aufbrechende Neugier sind Themen, die das Buch ohne großes Theoretisieren anspricht und in Piranesis Gesprächen und vor allem seinen Überlegungen durcharbeitet und miteinander in Beziehung setzt.
Grenzüberschreitung – im Denken, zwischen Menschen und hinein in andere Welten – haben ihren Preis.
„Embrace / Tolerate / Vilify / Destroy: How Academia Treats Outsider Ideas“, so lautet der Titel eines Buches, daß Matthew Rose Sorensen im Jahre 2008 bei Manchester University Press veröffentlicht hatte, einige Jahre später besuchte er Valentine Ketterley zu Recherchezwecken. Seither ist er verschwunden.
Das Buch beruht auf einer für mich großartigen Idee, die schlüssig umgesetzt und bis zu ihrem offenen Ende fesselnd erzählt wird, ohne daß ich enttäuscht zurückgeblieben wäre. Eine klare Leseempfehlung!
Pingback: Maibowle 2021 – Regentropfen und Grünexplosion – Kulturbowle