Madeline Miller, Ich bin Circe, 2018, dt. 2019 (aus dem amerikanischen Englisch von Frauke Brodd), 517 Seiten

„Sie kennen doch Circe?“ – mit dieser Zeile beginnt ein Chanson, das Friedrich Hollaender Anfang der 1960er Jahre für die großartige Hanne Wieder geschrieben hat.
Doch kennt man, kennen wir Circe wirklich? In meiner 418 Druckseiten umfassenden Ausgabe der Odyssee in der klassischen Übertragung von Johann Heinrich Voß ist die im zehnten Gesang angesiedelte Episode auf der Insel Äää ganze fünfzehn Seiten lang, später kommen noch ein paar Seiten dazu.
„Jene sprachs; uns aber gewann sie die mutigen herzen.
Jezt von tage zu tage, bis ganz umrollte der jahrkreis,
Saßen wir, reichlich mit fleisch und lieblichem wein uns erquickend.“
Soviel verwendet Homer auf ein offenbar ereignisloses Jahr; Miller spendiert den beiden immerhin fünfundzwanzig Seiten, randvoll mit Leben.
Außerdem berichtet die nur bruchstückhaft überlieferte Telemachie über das weitere Schicksal von Odysseus’ Frau Penelope und beider Sohn Telemachos, sowie über das Geschick von Telegonos, dem Sohn von Odyssee und Circe.
Also ging ich in diesen Wald hinein und mein Leben begann. (S. 107)
Miller, die als Altphilologin an amerikanischen Oberschulen unterrichtete, fügte in ihrem Buch diese und andere Elemente der griechischen Mythologie zu einem ausgreifenden Lebensbericht zusammen, den Circe uns Lesern gibt. Von der kleinen Nymphe, die als eines der Kinder des Sonnengottes Helios ein eher randständiges Dasein fristet, über die junge, rebellische Frau, die sich dem Willen der Götter entgegenstellt, hin zur gereiften Persönlichkeit, die bereit ist, sich ins Ungewisse aufzumachen.
Später, Jahre später würde ich ein Lied über unsere Begegnung hören […] Über meine Beschreibung war ich nicht überrascht: die stolze Hexe, zu Fall gebracht von des Helden Schwert, auf den Knien um Gnade winselnd. Die Demütigung von Frauen schien mir ein Hauptanliegen der Dichter zu sein. Als ergäbe es keine Geschichte, wenn wir nicht auf dem Boden herumkröchen und weinten. (S. 267)
Miller verleiht Circe eine eigenständige Stimme und läßt sie die Geschichte aus ihrer Perspektive, mit ihren Eindrücken erzählen, selbstbestimmt:
Ich hingegen wollte weiterkommen in meinem Leben, und jetzt bin ich hier, am Ziel. Ich habe die Stimme einer Sterblichen, nun will ich auch den ganzen Rest. Ich hebe die randvolle Schale zum Mund und trinke. (S. 503)
Das Buch ist flüssig geschrieben, es ist spannend erzählt, die Charaktere werden gut geschildert, ihre Entwicklung, ihre Fehler und Schwächen, ihr Beziehungsgeflecht – all das ist präsent, greifbar, überzeugend. Ein wahrer Figurenkosmos tritt auf, alles ist untergründig miteinander verbunden und hundert Jahre sind wie ein Tag. Themen sind Familie, Schuld, Eigenständigkeit, Verbundenheit, Gewalt, Kraft und Schwäche sowie Vertrauen und Liebe.