Unglaublich: Es gibt einen Romanführer, der, vergleichbar dem altbekannten Opern-, Schauspiel- und Konzertführer, den man vor dem Besuch der Vorstellung konsultiert, um zu wissen, worum es in den folgenden Stunden gehen wird, Romane vorstellt. Dabei handelt es sich nun aber nicht um ein Buch, sondern um eine seit 1950 erscheinende Reihe von aktuell 52 Bänden.
Das vorliegende Werk schafft zu den altbekannten Opern-, Schauspiel- und Konzertführern ein Gegenstück für den Roman. Dieser Plan liegt so auf der Hand, daß man nach Gründen sucht, warum er bis heute noch nicht zur Ausführung kam. Diese Frage führt unmittelbar zu den Grenzen eines solchen Versuches. Sein praktischer Nutzen leuchtet jedem Freund des Romans ohne weiteres ein: Wer viel liest, vergißt viel und wird für eine Stütze seines Gedächtnisses dankbar sein. Der Kreis jener Menschen, die an dem Unternehmen interessiert sind, ist also ein großer: zunächst der Literaturhistoriker, der forschende, lehrende und lernende, dann der Schriftsteller, weiterhin der Bibliothekar in den wissenschaftlichen, den Volks- und Werkbüchereien, ebenso der Buchhändler, der Verleger von Belletristik, der Sortimenter und der Leihbuchhändler; schließlich aber und in weitestem Sinne jene Romanleser, Männer wie Frauen, die nicht bloß der Unterhaltung wegen wahllos die Bücher verschlingen, sondern die, nachdenklich und sich erinnernd, aus den vielen einzelnen Handlungen zu einem Gesamtbild des vielfältigen Lebens vordringen wollen.
So heißt es im Vorwort des ersten Bandes ganz am Anfang. Und weiter:
Dies ist aber gleichzeitig der Grund für die zweite Schwierigkeit des Unternehmens, die Frage der Auswahl, Sie ist in erster Linie entscheidend für den praktischen Wert des Buches. Zwischen dem „Zu viel“ und dem „Zu wenig“ war also sorgfältig zu wägen. Nach dem Grundsatz „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“, wäre ein möglichst breiter Rahmen die bequemste Lösung gewesen.
Ein bildungsbürgerlicher Ansatz schimmert unverkennbar durch, aber das Thema Unterhaltung sorgt schnell für Ermüdungserscheinungen:
Dafür war das Material aus vier Jahrhunderten deutscher Dichtung doch zu umfangreich und qualitativ zu verschieden. Andererseits haben wir bewußt den engen Rahmen der „Weltliteratur“ in diesem Band weit überschritten. Der größte Teil der aufgenommenen Unterhaltungsliteratur verdient nicht diesen Ehrentitel. Aber ein Romanführer ohne diese Werke schien uns für den deutschen Leser ein unzulängliches und Ärgernis gebendes Unternehmen. So sind wir nach sorgfältiger und vielseitiger Prüfung für diesen Band auf 240 Verfassernamen und rund 900 Titel gekommen.
Oha, kann man da nur sagen. Und das Unterfangen gerät langwierig und wächst unter der Hand:
Mit dem fünften Band des „Romanführers“ [1954] ist die Behandlung der deutschen Autoren abgeschlossen. Im Oktober 1952 wurde für das deutsche Gegenwartsschrifttum die Aufnahme von vierhundert Verfassern mit über tausend Titeln in Aussicht gestellt; das Ergebnis zeigt, daß genau 442 Autoren mit 1091 Werken (darunter etwa 800 Romane und etwa 300 Novellenbände, Einzelerzählungen oder autobiographische Darstellungen in dichterischer Form) auf 987 Druckseiten behandelt wurden. Diese dreibändige Abteilung II des „Romanführers“ ist etwa um ein Viertel umfangreicher als die Abteilung I, in der über die deutschen Romane und Novellen von Barock bis zum Naturalismus referiert wurde und die ihren Stoff auf zwei Bände mit 753 Seiten (233 Autoren; etwa 900 Titel) verteilte.
In der Folgezeit werden auch Werke aus anderen Sprachen erfaßt; Texte aus der DDR werden gesondert ausgewiesen, ebenso Exilliteratur.
Näher zur Gegenwart erscheinen deutsche und ausländische Romane dann zusammen in einem Band, wobei auf die Übersetzung des Originals Bezug genommen wird.
Anders als im auf gefällige Lektüre reduzierten Reader’s Digest gibt es hier nur eine Inhaltsangabe, die immerhin in den Kontext der gleichzeitig erschienenen oder übersetzten Werke gestellt ist und so – neben dem Inhalt des konkreten Buches – einen Eindruck von literarischen Strömungen und Themen vermitteln kann.
Anders als dem gelegentlich noch in deutschen Wohnzimmern verstaubenden Schauspielführer dürfte diesem Mammutwerk aber kaum jemals weite Verbreitung beschieden gewesen sein. Letztendlich eine Kuriosität, die meines Erachtens völlig aus der Zeit gefallen ist.
Konzeptionell scheint der Romanführer gar nicht weit von Kindlers Literaturlexikon zu sein, das bei uns in der Schulbibliothek stand und oft letzte Rettung in der Pause vor der Deutscharbeit war. Mittlerweile dürfte wikipedia diese Aufgabe übernommen haben. Ich habe hin und wieder gerne mal reingeguckt, weil es eine nette Quelle für das Entdecken unbekannter Romane und das schnelle Aneignen von Halbwissen war. Mach ich jetzt auch vor allem online. Also ja – in der Tat völlig aus der Zeit gefallen und in Privatbesitz hab ich den Kindler auch nur äußerst selten gesehen.