Vom Theaterzettel zum Programmheft heutigen Zuschnitts – einen Abriß dieser Entwicklung findet man bei Wikipedia, wo es heißt, daß sich „im 20. Jahrhundert das Programmheft mit Handlungszusammenfassungen, Erklärungen und persönlichen Daten der Künstler“ einbürgerte. Auch vom Sammeln und Tauschen der Programmhefte ist da die Rede. Als ich neulich bei Twitter ein Photo meiner kleinen Sammlung zeigte, gab es eine muntere Diskussion meiner theatraffinen Follower und ich erwog, „mal etwas dazu im Blog zu schreiben“ – voilà:
Zunächst einmal knie ich vor dem Regal und schwelge in Erinnerungen und bin baß erstaunt: Die Produktion habe ich gesehen? In Mainz?? Dann merke ich einmal mehr, daß ich längst nicht mehr der jüngste bin. Das älteste erhaltene Programmheft datiert von 1980, mein erster Opernbesuch fand aber zwei Jahre vorher – im Konfirmandenanzug – statt und galt Mozarts Entführung. Dritter Rang, letzte Reihe Mitte und zwei Glas Saft in der Pause für Imke und mich, da wurde offenkundig das Programmheft eingespart. Meine ersten Begegnungen mit Thalia und Polyhymnia fanden sämtlich im Staatstheater Wiesbaden statt, keine schlechte Adresse unter den mittleren Bühnen.
Erhalten ist das Programmheft des Rosenkavalier, Premiere (!), Dirigent Hans-Werner Pintgen, Inszenierung Heinz Peters. Marschallin Ingrid Kremling, Octavian die junge Gail Gilmore, Sophie Elaine Cormany, Ochs Wolfgang Babl, Faninal Erwin Kurtz – damals und für manches weitere Jahr prägende Namen. Auf der U2 (nicht immer aktuelle) Fotos der Sänger, dann Texte von Strauss und Hofmannsthal, Textauszüge aus älteren Programmheften (Wiesbaden und Deutsche Oper am Rhein), aber kein Wort zur aktuellen Inszenierung, kein Foto, sondern thematisch passende Reproduktionen von Zeichnungen (Himmelbett, Toilettenszene).
Das bleibt länger so, erst später kommen Kostümfigurinen und Zeichnungen der Bühnenbilder hinzu. La Bohème, Tannhäuser, Don Giovanni, Fledermaus, Rigoletto, Carmen, Die Csardasfürstin, Die lustigen Weiber von Windsor, Der Ring des Nibelungen, Der fliegende Holländer, Romeo und Julia (Prokofjew), Il Trovatore, Arabella, Die Zauberflöte, Peter Shaffers Amadeus, Mozart (Ballett), Schillers Kabale und Liebe, Manon Lescaut – häufig Premieren, langsames Vorarbeiten von der letzten in die erste Reihe des dritten Ranges.
Am 17. August 1986 findet ein „Festlicher Auftakt“ statt; Claus Leininger stellte als neuer Intendant sein Ensemble vor, bereits bekannte und eine Reihe neuer Sängerinnen und Sänger. Waltraud Isolde Elchlepp, eine gefeierte Azucena, brillierte als Eboli, Graciella Alperyn weckte große Erwartungen für eine neue Carmen-Produktion, Jonathan Welch klang fast wie Pavarotti – und sollte bald als Alfredo Sensation machen –, Scott Weir als Mozarttenor (und später Liedsänger, in meinem Plattenregal steht eine Aufnahme der Winterreise von ihm), Sue Patchell als dramatischer Sopran, Albert Dohmen noch jung als Figaro-Graf und Don Giovanni; außerdem der Publikumsliebling Eike Wilm Schulte und viele andere. Wie die Zeitung zutreffend schrieb: „Gewaltiger Kräfteschub und Verheißungen für die Zukunft“.
Dann, mit der neuen Intendanz, die neugestalteten Programmhefte, durchnumeriert. 22 finden sich über die nächsten Jahre in meinem Regal. Nr. 1 gilt der Eröffnungspremiere von Mozarts Titus, am Pult der ewige GMD Siegfried Köhler, Inszenierung Marcel Bluwal, Ausstattung Hubert Monloup. In der Titelrolle Jonathan Welch, Vitellia Sue Patchell, Sextus Graciella Alperyn, Servilia Györgyi Benza, Annius Marion Meyerolbersleben, Publius David Cumberland. Es war meine erste und bislang einzige Begegnung mit dem Werk. Das muß nicht so bleiben. Auch Anregungen resultieren also aus diesem kleinen Blogprojekt.
Die große, weite Theaterwelt in das beschauliche Wiesbaden brachten und bringen die Internationalen Maifestspiele. Diese habe ich von 1980 bis 1994 regelmäßig besucht. 1986 etwa Aida (Opera North Leeds, mit Linda Finnie als Amneris und Wilhelminia Fernandez als Aida – letztere bekannt aus dem wunderbaren Film Diva), Giulietta e Romeo von Zandonai und Glucks Orfeo (beide Ente Lirico Arena di Verona), Eugen Onegin (Staatsoper Kiew) sowie John Neumeiers Kameliendame (Staatsoper Hamburg). Besuche aus dem „Ostblock“ gab es regelmäßig, u.a. von der Komischen Oper Berlin, vom Moskauer Bolschoi, vom Leningrader Kirow-Ballett.
Aber auch die Müncher Kammerspiele waren in Wiesbaden zu Gast. Kleists Zerbrochener Krug (1987), in der Titelrolle Rolf Boysen, Edgar Selge als Schreiber, Axel Milberg als Ruprecht. Ein Jahr später Racines Phädra mit der großen Gisela Stein in der Titelrolle, Thomas Holtzmann als Theseus und Manfred Zapatka als sein Sohn Hippolytos.
Mein akademischer Lehrer veranstaltete regelmäßig Seminare mit anschließenden Exkursionen, 1987 fuhren wir zwecks Anschauung zur Rechtslage Deutschlands nach Berlin. Eberhard Diepgen im Rathaus Schöneberg, Hans Otto Bräutigam in der Ständigen Vertretung, für den Zwangsumtausch zwei Schallplatten vom VEB Deutsche Schallplatten Berlin DDR zu je 12,10 Mark der DDR (Opernarien gesungen von Siegfried Lorenz und Brahms‘ Klavierkonzert Nr. 1, gespielt von Claudio Arrau und dem London Philharmonic unter Giulini). In der Deutschen Oper dirigierte Giuseppe Sinopoli einen fulminanten Macbeth, der für das Fernsehen aufgezeichnet wurde. Trotz gelegentlicher Sichtbehinderung ein grandioser Abend, dank Mara Zampieri und Renato Bruson.
Am 8. Dezember 1989 besuchte ich im Rahmen einer Städtereise Düsseldorf und sah dort in der Deutschen Oper am Rhein La Cenerentola in einer wunderbaren Inszenierung von Jean-Pierre Ponelle, am Pult Alberto Zedda. Agnes Baltsa sang die Titelrolle, Douglas F. Ahlstedt den Don Ramiro, Wolfgang Glashof den Dandini. Walter Berry war Don Magnifico und Bard Suverkrop Alidoro.
1993 mein erster Simone Boccanegra in Frankfurt mit Sylvain Cambreling am Pult, 1994 mein erster Tristan in Mainz (George Cray – Tristan, Carla Pohl – Isolde, Friedemann Kunder – Marke), im gleichen Jahr ein Barbiere unter Zedda, inszeniert von Dario Fo in Amsterdam (der mir nicht gefiel) sowie eine Lucia in Lüttich und eine konzertante Aufführung von I Capuleti e i Montecchi im Amsterdamer Concertgebouw (ebenfalls unter Zedda, mit Christine Barbaux und Martine Dupuy). Ein Jahr später am gleichen Ort eine konzertante Aufführung von I puritani mit Luba Orgonasova als Elvira, Stuart Neill als Arturo, Alastair Miles als Giorgio und Roberto Frontali als Riccardo – das war toll!
1994 wohnte ich ja schon in Berlin, und diese Opernreisen nach Benelux wurden von Düsseldorf aus organisiert… Wie so ein richtiger Tifoso!
In Berlin stand dann als erstes die Komische Oper auf dem Plan: 1994 La Cenerentola – wie im Hause üblich auf Deutsch. Danach Tancredi an der Staatsoper mit Robert Gambill und Jochen Kowalski unter Fabio Luisi, kurz vor Weihnachten dann La Traviata an der Komischen Oper mit der fantastischen Noëmi Nadelmann, die kurz danach auch als Lucia zu hören, nein zu erleben war. 1995 dann die erste Begegnung mit der Lucia von Filippo Sanjust, die seit 1980 im Repertoire der Deutschen Oper Berlin gezeigt wird. Am 22. April 1995 mit Roberto Servile (Enrico), Lucia Aliberti (Lucia) und César Hernández (Edgardo), am 6. April 1995 mit Roberto Frontali (Enrico), Lucia Aliberti (Lucia) und Alfredo Kraus (Edgardo). 1996 und erneut 1998, kurz vor seinem Tod, hörte ich Kraus in dieser Produktion wieder. 2004 war dann Edita Gruberova als Lucia zu hören, die 24 Jahre zuvor die Premiere dieser Produktion gesungen hatte und beinahe so klang, wie in der EMI-Aufnahme aus dem Jahre 1984.
Zurück ins Jahr 1995 und an die Deutsche Oper: Kathleen Kuhlmann/Jennifer Larmore, Raul Gimenez und Stefano Rinaldi Miliani/Kristin Sigmundsson sorgten im Februar/April für zwei wunderbar vergnügliche Aufführungen von L’Italiana in Algeri.
Im November 1996 präsentierte das damals noch selbständige Ballett der Staatsoper, das sich mehr an der sowjetischen Tradition orientierte, wohingegen man an der Bismarckstraße mehr nach Stuttgart und London blickte, „Die Welt der Ballets Russes“. Es gab Les Sylphides, Le Spectre de la Rose, Der sterbende Schwan, L’Après-midi d’un Faune und Les Noces. Vor allem die deutsche Erstaufführung der Rekonstruktion der Faunengeschichte war beeeindruckend.
München März 1997: Harry Kupfer inszenierte Macbeth und ich konnte zwei Wochen nach der Premiere die Vorstellung auf dem Stehplatz besuchen. Elena Filipova als Lady, Paolo Gavanelli als Macbeth, Jan-Hendrik Rootering als Banquo. Mehr ein bleibender Eindruck vom Nationaltheater als von der Aufführung, der die eingelegten Zeitungsausschnitte ein eher mäßiges Niveau attestieren.
Bei einer Reise nach New York brachte ich den Koffer ins Hotel und machte mich auf den Weg ins Lincoln Center. Dort kaufte ich zwei Eintrittskarten für den 8. und 10. Dezember 1997. Don Carlo, u.a. mit Thomas Hampson, James Morris, Vladimir Ognovenko und Dolora Zajick, beobachtete ich vom hohen Family Circle aus, Turandot dann vom Orchesterstehplatz. Von dort hatte ich dann einen tollen Blick, als Franco Zeffirelli das Bild in die reiche Innenwelt des Palastes öffnete und nicht mit Gold, Blau und Platz sparte – überwältigend. Sharon Sweet und Richard Margison geboten über Stimmen, die den großen Saal füllten. Die Programmhefte sind von außen identisch und wirken insgesamt nicht ansprechend.
Hebbel-Theater in Berlin, Februar 1999. Die Geschwister Pfister, die ich zuvor mehrmals in der Bar jeder Vernunft und auch mal im Gloria in Köln gesehen hatte – und die tolle Shows machen! – präsentierten ihre Adaption von Schneewittchen: The Voice of Snowwhite. Fräulein Schneider war Schneewittchen, Ursli Pfister die böse Königin und Toni Pfister spielte alle übrigen Rollen. Live ein großes Vergnügen und, wie die CD beweist, eine tolle Musikzusammenstellung. Andreja, Christoph und Tobias sind echte Profis, die sich seit über zwanzig Jahren in einem knallharten Geschäft behaupten.
Der Ring um den Ring ist ein großes Handlungsballett, eine Metamorphose von Wagners Tetralogie, die Maurice Béjart 1990 auf die Bühne brachte. Optisch gibt es eine Nähe zum Götz-Friedrich-Ring, aber die Erzählweise ist ganz anders. Ich habe das Balett 2006 und 2013 gesehen und war beide Male beeindruckt. Vom Tanz, vom Konzept und von Elizabeth Cooper am Flügel, die neben der eingespielten Musik aus großen Ring-Aufnahmen für einen packenden Klang sorgt.
Wagner in Berlin – das verlangt einen eigenen Blogpost. Hier nur das opulente Programmheft der Richard-Wagner-Tage 2003 und darin der berühmte, grandiose, sehenswerte, tolle, beeindruckende Zeittunnel, der seit 1984 immer wieder für ein volles Haus sorgt.
Tolle Sammlung!
Kann mich Petra nur anschließen – vor allem aber finde ich Deine Erinnerungen dazu spannend. Hätte ich mehr Zeit, würde ich aus meiner Sammlung erzählen. Besonders geliebt habe ich immer die Programm-‚Hefte‘ der Schaubühne, die eigene Bücher waren. In Einzelfällen habe ich mir sogar alte Hefte von wichtigen Inszenierungen, die ich gar nicht gesehen habe, besorgt.
Eigentlich wollte ich ja mehr auf die Programmhefte als Texte und Medien eingehen (was aber nur im Ansatz geklappt hat), aber dann ist der Erzähler mit mir durchgegangen.
Ich habe aber beispielsweise die Programmhefte zum Ring des Nibelungen (den ich bisher in drei Versionen mehrmals zyklisch gesehen habe) bewußt ausgelassen, um hier noch einmal nachlegen zu können. Hoffen wir mal auf lange Winterabende…
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