Die europäische Literatur des 19. Jahrhunderts kreist zu einem nicht geringen Teil um das Problem, daß Menschen in gesellschaftlichen Konventionen und Klassenschranken gefangen sind. Vor allem die Frauen sind Opfer dieses Systems, doch auch die Männer tragen Versehrungen davon; allerdings wird dies seltener und meist verhaltener thematisiert. Oberst von St. Arnaud muß seine Ehre verteidigen, wo ihm Liebe verwehrt bleibt, doch wirkliches Leid erfährt hingegen seine Frau Cécile. Nur die Inschrift auf ihrem Grabstein, die sie sich durch den Freitod erringt, ist ein aktives Aufbegehren. Cécile von St. Arnauld, Effie Briest, Luise Miller, Anna Karenina, Marguerite Gaultier – diese Liste ließe sich lange fortsetzen. Auszehrung, Freitod, Wahnsinn – vor allem auf der Opernbühne, hier zu einem effektvollen Stilmittel entwickelt – sind der Ausweg in einer wahrhaft ausweglosen Situation für Frauen, deren Entfaltung von Strukturen unterbunden wird.
Auch das gerade gelesene Büchlein variiert dieses Thema. „Überfahrt mit Dame. Eine Salonerzählung“ von Henry James. 1888 unter dem Titel „The Patagonia“ erschienen, liegt das Buch erstmals in deutscher Übersetzung vor. Der Aufbau-Verlag kombiniert die Novelle (107 Seiten) mit der kurzen Erzählung „Die Reise nach Panama“ von Anthony Trollope („The Journey to Panama“, 36 Seiten). Der in leuchtendrotes Leinen gebundene schmale Band schickt zwei Frauen über den Atlantik, die in Amerika ihren jeweiligen Verlobten treffen und dort heiraten sollen. Gute Partien sind beiden in der Heimat verwehrt geblieben; die Ehe in Übersee bleibt als Ausweg:
„Wenn Emily Viner Mr. Gorloch in Peru heiratet, ist sie auf ehrbare Weise aus dem Weg geräumt. Sie wird keinen Ärger mehr machen, und man kann ihren Namen in Familienkreisen sorglos erwähnen. Es gibt tatsächlich Menschen, Mr. Forrest, die kein Recht auf ein Leben haben.“ (S. 140)
Trollope ist frappierend offen. James hat seinen Text uneindeutiger konzipiert, aber seine Haltung kommt ebenfalls klar zum Ausdruck: Die Menschen sind Gefangene der Konventionen und vor allem die Frauen werden zu Opfern. So ist es, auf ganz unterschiedliche Weise, in beiden Erzählungen.
Beide Texte lesen sich gut, James‘ Novelle leistet sich Zwischentöne, aber keine Längen. Er findet eingängige Formulierungen, häufig mit dem naheliegenden Bezug zur Seereise, so etwa:
„Sie hatte einen eleganten Gang mit großen Schritten, und ich erinnere mich, dass es in diesem Moment eine sanfte Abenddünung gab, die das große Schiff sacht und rhythmisch schaukeln ließ und die Bewegungen der anmutigen Fußgänger noch anmutiger machten, während jene der unbeholfenen noch unbeholfener wirkten.“
Auch hier gilt: Leseempfehlung!
Hallo Norman,
oh ja, solche Bücher sind definitiv nach meinem Geschmack 😉 Was hier leider abschreckt ist die geringe Menge, nur knapp 140 Seiten. Das ist immer schade, wenn ich da an Anna Karenina denke, dann war das schon echt klasse, so umfangreich und umfassend in ihre Gedankenwelt eintauchen zu können. Aber sehr schön, dass du dich auch für die Literatur dieser Zeit begeistern kannst und vor allem auch darüber blogst. Ich finde im 19. Jahrhundert einfach einen riesigen Fundus an hervorragender Literatur, die mir so schnell auch nicht ausgehen wird.
Viele Grüße
Tobi
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