Ganz anders angelegt als erwartet, zieht mich dieses Buch von Anfang in seinen Bann. Kurze Kapitel, in denen man als Leser Leute kennenlernt, bei denn auf einmal das FBI vor der Tür steht und sie mitnimmt. Kennte man den Klappentext über das doppelte Flugzeug samt Insassen nicht, tappte man völlig im Dunkeln.
Hervé Le Tellier, Die Anomalie, 2020, dt. 2021 (aus dem Französischen von Jürgen und Romy Ritte), Hamburg: Rowohlt, 346 Seiten.

Die Figuren verbindet, daß sie einen Transatlantikflug gemacht haben, auf dem es schlechtes Wetter gab. Ansonsten ist es eine wilde Mischung, die es mir am Anfang schwer machte, Wichtiges von Unwichtigem, Zentrales von bloßem Beiwerk zu trennen.
- Der alternde Architekt, von dem sich seine jüngere Liebhaberin gerade getrennt hat und der das nicht wahrhaben will, weil sie ihn so vom Elixier der Jugend abschneidet – wohl eher nur Beiwerk.
- Ein Profikiller, der zwischen einer bürgerlichen Existenz und seinem kriminellen Doppelleben pendelt – dito.
- Ein Schriftsteller, der als Autor kaum, als Übersetzer um so mehr Erfolg hat – er könnte zentral sein, denn er schreibt ein Buch mit dem Titel „Die Anomalie“.
- Ein Wissenschaftler, Mathematiker an der Universität Princeton, offensichtlich ausgelaugt und zwischenmenschlich erfolglos, wird vom drohenden Nebenfigurenschicksal erlöst, als sein Handy klingelt.
- Spätestens ab diesem Zeitpunkt liest sich das Buch als Thriller mit großem Sicherheitsfokus. Dadurch wird aber auch die Leseerfahrung zielgerichteter – was nicht bedeutet, daß es keine Überraschungen mehr geben würde. Es gibt Überraschungen, und was für welche!
Die Figur des Schriftstellers thematisiert das Schreiben, zunächst an sich, dann das des vorliegenden Buches: „Victor beobachtet all diese verstreuten Existenzen, all diese Ängste, die in der überdimensionierten Petrischale schwappen, die dieser Hangar ist, – wahrhaftig, was für ein komisches Wort -, ohne zu wissen, an welche Existenz er sich halten soll. Er überlässt sich der Faszination, die andere Leben als seins auf ihn ausüben. Gerne würde er eines auswählen, die richtigen Worte finden, um diese Kreatur zu erzählen, es so weit bringen, dass er glauben darf, ihr nahe genug gekommen zu sein und sie nicht zu verraten. Dann übergehen zur nächsten. Und zu noch einer anderen. Drei Personen, sieben, zwanzig? Wie vielen simultanen Erzählungen wäre ein Leser bereit zu folgen?“(S. 178f.)
Der Autor ist Mathematiker und hat seit den neunziger Jahren eine Fülle von Texten veröffentlicht, die formal und inhaltlich sehr unterschiedlich angelegt sind. Der vorliegende Roman führt, so mein Eindruck, verschiedene Elemente seines bisherigen Schaffens zusammen. Dabei bleiben naturgemäß Fragen offen, die ein konventioneller verfaßter Text möglicherweise beantwortet, beziehungsweise ausführlicher behandelt hätte. Humorvolle Passagen wechseln mit liebevoll spöttelnden Abschnitten, gekonnte Charakterisierungen von Personen und treffende Beschreibungen von Situationen ergeben zwar ein Gesamtbild, durch die sehr unterschiedlichen Scharfstellungen hatte ich allerdings dennoch nicht den Eindruck, umfassend „im Bild“ zu sein. Bloße Typen stehen nahezu gleichrangig neben feiner charakterisierten Figuren mit ausgeprägter Individualität.
Die versammelten Wissenschaftler*innen vermuten, es handele sich um eine Simulation. Doch wie weit diese reicht, mit anderen Worten: was überhaupt noch real oder längst von einer übergeordneten künstlichen Intelligenz im 3D-Drucker der Zukunft perfekt hergestellt und via Zeitreise in ihre Gegenwart geschickt wurde – wer weiß das schon?
Das Buch steckt nicht nur voll literarischer und popkultureller Anspielungen, sondern bietet in seiner zunehmend absurd anmutenden Überdrehtheit auch eine Reihe von Überraschungen. Dies gilt vor allem, wenn sich die doppelten Menschen – oder wie soll man sie nennen? – begegnen.
Der namenlos bleibende US-Präsident erinnert an Donald Trump, Xi Jinping umweht die Einsamkeit des Diktators, der auf Ginkobäume schaut. Emmanuel Macron hat einen kurzen Auftritt, die deutsche Kanzlerin wird erwähnt.
Wie sollen aber nicht nur die betroffenen Individuen und ihre Familien sowie Menschen in ihrem Umkreis mit dem Umstand, daß es sie jetzt doppelt gibt umgehen? Kann man überhaupt noch von Individualität sprechen?
In der Late Night Show mit Stephen Colbert wird ein ausgewähltes Duo präsentiert, um die Reaktion des Publikums zu testen und um um Verständnis zu werden. Eine der vielen grandios geschriebenen Passagen, die zugleich eine kleine Liebeserklärung an einen wunderbare Show und ihren Moderator ist. Doch was im Studio und am Bildschirm funktioniert, ruft auch Gegenreaktionen hervor. Brillant macht Le Teller die religiöse Verzückung eines jungen Mannes deutlich, der gegen die Sünde, die er zu erkennen glaubt, zu Felde zieht.
Das Buch geht auf eine sehr eindringliche Art und Weise der Frage nach, was Realität sei. Außerdem konfrontiert es uns Menschen mit der unangenehmen Erfahrung, wie sich der Verlust bislang sicherer Überzeugungen anfühlt. Nach Jahren der Pandemie, nach Fake-News und Verschwörungstheorien, nach Offenen Briefen und der Talkshowdauerpräsenz von Menschen, die die Verengung des Meinungskorridors beklagen, kann man von Le Tellier hier vorgelegte Gedankenexperiment gleichermaßen fasziniert wie erschaudernd lesen.