Magda zieht um.

Nora Bossong, Reichskanzlerplatz, Suhrkamp 2024, 298 Seiten.

Foto: nw2024

Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Weltkrieg, Zwischenkriegszeit, Weltkrieg. Die Ereignisse, die sich hinter diesen drei Schlagworten verbergen, die Fülle an Geschehnissen, an Schicksalen, an Ungeheuerlichkeiten – sie lassen sich selbst in umfangreichen Geschichtsbüchern kaum umfassend darstellen. Ein Roman kann verdichten, auf Einzelschicksale fokussieren, durch Auslassung und Zeitraffung große Bögen schlagen; kurz, einen gewaltigen Stoff handhabbar machen. Dies gelingt Nora Bossong mit diesem Buch.

Wir begleiten den fiktiven Charakter Hans Kesselbach, in dessen Schulklasse 1919 ein neuer Mitschüler kommt, Hellmut Quandt. Dieser wird schnell zum Star der Klasse, auch Hans fühlt sich zu ihm hingezogen, wird in den Kreis aufgenommen und schließlich zum engen Freund. Hans ist homosexuell und muß bald feststellen, daß sein Begehren nicht erwidert wird. Hellmut ist nicht „so einer“, sondern in seine nur wenig ältere Stiefmutter verliebt. Magda Quandt war 1901 unehelich geboren worden und trug später die Namen der Ehemänner ihrer Mutter, Ritschel und Friedländer. 1921 heiratete sie Günter Quandt, noch im gleichen Jahr wurde Sohn Harald geboren.

Die zweite Frau des verwitweten Industriellen Günter Quandt, die sich im goldenen Käfig einsam fühlt, weil ihr Mann immer neue Coups einfädelt, um sein Imperium zu vergrößern, verbringt viel Zeit mit ihrem Stiefsohn und dessen Schulfreund.

1927 stirbt Hellmut Quandt. Hans Kesselbach hat weiter Kontakt zu dessen Mutter, geht viel mit ihr aus, beginnt schließlich eine Affäre mit ihr. Diese endet, als sie Joseph Goebbels kennenlernt und dann dessen Frau wird. Harald Quandt, für den sie nach der Scheidung das Sorgerecht erhalten hatte, wird zu einem blonden und blauäugigen Vorzeigekind.

Dieser persönliche Teil der Erzählung wird durch die politischen Ereignisse überformt, die Bossong zurückhaltend, oft auch nur andeutungsweise, in den Roman einflicht. Der verlorene Erste Weltkrieg, der Versailler Vertrag, gesellschaftliche Umwälzung und Republik, Inflation und Libertinage – vor dieser Folie spielt der Roman, dies dringt in seine Haupt- und Nebenfiguren ein. Hans’ Vater ist ein pensionierter Weltkriegsgeneral, Invalide, später verarmt, mit Hoffnungen auf eine konservative Wende in der Politik und eine neue Chance in der Armee. An ihm buchstabiert die Autorin das Versagen der alten Eliten aus. Günter Quandt erspekuliert sich sein Imperium, verdient am Ersten und später auch am Zweiten Weltkrieg, dient sich den Nationalsozialisten an, schlägt Arisierungsgewinne nicht aus. 

Hans Kesselbach geht zum Militär, studiert Jura, tritt in den Auswärtigen Dienst ein. Magda Goebbels regt die eine oder andere Beförderung an und ihr Mann tut ihr den Gefallen, sich für seinen Vorgänger einzusetzen.

Über Hans schwebt immer die Gefahr, als Homosexueller denunziert und verfolgt zu werden. Soll er eine Scheinehe eingehen? Soll er sich in die Schweiz absetzen? Wird er den Krieg überleben?

Der Roman ist einfach lesbar, der Tonfall mitunter etwas elegisch. Wieso sich Andreas Platthaus stilistisch an Thomas Mann erinnert fand, bleibt sein Geheimnis. Gelungen fand ich Passagen, in denen Bossong das alltägliche Durchwursteln beschreibt, weniger gut jene, die das Innenleben von Hans betreffen.

Lange hatte ich keine Vorstellung vom Tod.

Soll der erste Satz des Romans an Proust erinnern? Die Unschärfe der Erinnerung nimmt einen wichtigen Raum im Roman ein, viele Aktionen von Hans Kesselbach werden gesteuert von Verdrängen und Vergessen. Kann das individuelle Leben geordnet verlaufen, wenn die Welt aus den Fugen gerät? Kann man in einer fingierten Normalität leben, ohne verrückt zu werden?

Das sei gar kein Buch über Magda Goebbels, haben manche geklagt. Müßte es das sein? Ich finde nicht. 

Bossong hält die Balance zwischen Infotainment und Rührstück, ihr Roman ist keine Abrechnung, aber auch kein Entschuldigungsversuch. Sie läßt uns einen Blick hinter die Kulissen werfen, der uns mehr zeigt, als wir sehen wollen. Auch wenn wir wenig Neues sehen, können wir den Blick nicht abwenden.

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2 Responses to Magda zieht um.

  1. Guten Morgen!
    Das war ein ganz wertvoller und gelungener Beitrag, der mich daran erinnert hat, dass das Buch nun ungelesen im Regal steht, obwohl ich es seit Monaten lesen möchte. Wird herausgelegt und jetzt endlich gelesen werden.

    Beste Grüße aus Hessen,

    Barbara

  2. Avatar von oeiao oeiao sagt:

    Interessantes Buch, parallel von Nora Bossong würde ich dazu den etwas älteren Roman Webers Protokoll (2009) empfehlen, da kommen einige Elemente bereits vor.

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