Peter Stamm, In einer dunkelblauen Stunde, 2023, Tb. 2024, Fischer, 252 Seiten

Dies ist meine erste Begegnung mit dem 1963 in der Schweiz geborenen Autor, der bereits viele Bücher veröffentlicht hat. In einer dunkelblauen Stunde ist ein Roman über verschiedene Männer und Frauen und ihre Beziehungen zueinander, wobei der schweizerische Autor Richard Wechsler und die Dokumentarfilmerin Andrea im Mittelpunkt stehen. Die beiden treffen aufeinander, als Andrea gemeinsam mit ihrem Kameramann einen Film über Wechsler drehen will. Die Dreharbeiten führen sie nach Paris, wo Wechsler lebt, und in das Dorf seiner Kindheit. Dann kommt Wechsler nicht mehr zu den Dreharbeiten und das Projekt platzt. Andrea muß das ohnehin nicht sonderlich erfolgreiche Filmen aufgeben und sich einen Bürojob suchen. Doch immer wieder denkt sie an Wechsler, spricht mit ihm und über ihn, malt sich auch dann noch Begegnungen aus, als er längst gestorben ist.
Die Geschichte wird aus der Perspektive von Andrea erzählt, die verwendete Erzählstruktur ist nicht linear, wechselt von innerem Monolog zu Beschreibungen und zurück, die indirekte Rede klingt oft sperrig. Der Stil ist reduziert, mitunter spröde, aber nicht ungeschliffen. Einzelne Sätze haben – jedenfalls in ihrer unmittelbaren Umgebung – eine intensive Leuchtkraft:
Das Paradies wäre der Ort, an dem es keine Geschichten gibt. (S. 45)
Ein Schweigen, das mehr ist als Stille. (S. 47)
Es gibt gute Einfälle, mit denen der Autor Stamm sein kompositorisches Können zeigt. Ein Beispiel: Andrea und Wechsler telefonieren oft und lange, als er schon todkrank ist. Dabei hört sie nicht immer genau zu, wenn er erzählt, schweift ab oder macht etwas nebenher. Einmal stellt sie eine Einkaufslist zusammen und erschrickt, als sie das letzte Wort, das sie notiert, halblaut ausspricht.
Toilettenpapier, sage ich. Mist. Aber er scheint es gar nicht gehört zu haben. (S. 123)
Später ist sie in seinem Haus, gemeinsam mit seiner Jugendliebe, und sieht Papiere durch. Dabei findet sie ihre vollständige Einkaufsliste (S. 132.)
Natürlich bin ich auch über einzelne Passagen gestolpert:
Aber mir gefällt dieses mönchische Leben. Kann man auch nonnisch leben oder nur mönchisch? (S. 222)
Um des Gags willen das Wort „klösterlich“ vermeiden – das hat mich nicht überzeugt.
Ein andermal liest Andrea in einem Gedichtband und ist enttäuscht:
Klingt ein bisschen wie verdünnter Pablo Neruda oder wie diese junge Frau, die bei der Vereidigung von Joe Biden sprach. Amanda Irgendwas. (S. 174)
Huihuihui – ist das noch politisch korrekt?
Ein Buch über das Älterwerden, über Distanz und Nähe, über Bewahren, Erinnern und Vergessen, über Abschiede und versuchte Neuanfänge. Vieles bleibt ungewiß, sowohl in der Vergangenheit als auch in der Zukunft. Für mich war das ein reifer Text, in Inhalt und Form. Peter Stamm schafft es, nicht zu viel vermeintlich Bedeutungsvolles draufzusatteln, der Text ist entschlackt, ohne dadurch im Belanglosen zu verharren.

Guten Morgen Norman
Ja, Peter Stamm ist einer meiner Lieblingsautoren. Nicht nur, weil dort aufgewachsen ist, wo wir wohnen… Kennst du den Film über dieses Buch? Spannend, als Ergänzung zum Buch. Falls er dich interessiert, kannst du ihn hier https://www.dropbox.com/scl/fi/v26avjkby5he9vr2nqflh/Sternstunde_Kunst-Wechselspiel_-_wenn_Peter_Stamm_schreibt-2078290864.mp4?rlkey=22w01dgtpitgqbgch5lwiecyv&st=4j8eghns&dl=0 herunterladen Viel Spass und einen schönen Sonntag. Fredy
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Guten Morgen Freddy,
vielen Dank für den Kommentar und den Link zu dem Film, der in einer kurzen Notiz erwähnt wird. Den schaue ich mir gerne an!
Viele Grüße Norman