Der große Augenblick

Clarice Lispector, Der große Augenblick, 1977, dt. 2016 (aus dem brasilianischen Portugiesisch von Luis Ruby), Tb. 2018, 126 Seiten.

Clarice Lispector, Der große Augenblick | Foto: nw2023

Der Text, gut 110 Seiten lang, ist eigentlich recht kurz für einen Roman und vieles bleibt denn auch im Ungefähren. Dieser Effekt wird dadurch verstärkt, daß der männliche Erzähler genausoviel über sich und sein Schreiben sowie die damit verbundenen Schwierigkeiten spricht, wie über die Geschichte, die er erzählen möchte. Lispector verschlingt also den inneren Monolog des Erzählers mit dessen auktorialer Erzählung, deren Konturen dadurch verschwimmen.

Macabéa, so heißt die junge Frau, deren Geschichte erzählt wird, wird als Waise von einer bösen und geizigen Verwandten aufgezogen, erwirbt nur die geringsten Kenntnisse und sucht sich dementsprechend eine schlecht bezahlte Stelle, die sie weder ernährt noch ausfüllt. Ohne Ansprüche und Erwartungen nimmt sie das Leben wie es kommt und taumelt durch die Tage. Ablenkungen, Gier oder Lust sind ihr fremd, Kontakte zu und Interaktionen mit anderen Menschen bleiben meist auf das Nötigste beschränkt. Als dann doch ein Mann in ihr Leben tritt – ebenfalls eine Verlierergestalt, aber anders als sie mit Kampfeswillen – ergibt sich eine von Verletzungen und Kränkungen geprägte Partnerschaft, die der Mann recht bald zugunsten einer lebensfrohen und ihm eine Gebärperspektive bietenden Frau aufgibt.

Nachdem Macabéa eine Wahrsagerin besucht hat, nimmt die Geschichte ein einschneidende Wendung.

Wie ich gleich ausführen werde, ist diese Geschichte das Ergebnis einer Wahrnehmung, die nach und nach erfolgte – seit zweieinhalb Jahren entdecke ich allmählich die Gründe. Gegenstand der Wahrnehmung ist das unmittelbare Bevorstehen von. Von was? Wer weiß, ob ich das noch erfahre. (S. 10)

Die auf mich erratisch wirkende Erzählweise führt dazu, daß Sätze sehr matt wirken, oder auch strahlen können, abhängig davon, ob sie von der Selbstreflexion überschattet werden oder nicht. Eigenartig.

Sie war zu unbeholfen, um sich zu helfen zu wissen. (S. 28)

Sie war ein schweigsamer Mensch (weil sie nicht zu sagen hatte), aber sie mochte Geräusche. (S. 42)

Am Sonntag stand sie früher auf, um mehr Zeit zum Nichtstun zu haben. (S. 44)

Dies ist der letzte Text Lispectors, die 1977 im Alter von nur 57 Jahren starb. Ob er deswegen als Spätwerk zu charakterisieren wäre und welche Implikationen – besondere Reife, Hintersichlassen von Konventionen, etc. – das hätte, vermag ich nicht zu beurteilen. Ich empfinde ihn eher als experimentell, ja bewußt unentschieden.

Anders als die Romane der 1920er Jahre, die die neue Frau zum Gegenstand haben und deren Chancen in der modernen Welt ausloten, erscheint mir dieser Text schlaff und richtungslos.

Dieser Beitrag wurde unter Bücher, Literatur, Neuerwerbungen abgelegt und mit , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..