Vor wenigen Wochen habe ich Florian Illies‘ Buch „1913“ (2013) gelesen, im letzten Jahr Philipp Bloms „Der taumelnde Kontinent“ (2008, dt. 2009). Beide setzte ich für mich jeweils in Beziehung zu einer schon länger zurückliegenden Lektüre von Stefan Zweigs „Die Welt von Gestern“. Nun hatte ich aus beruflichen Gründen etwas in Lothar Galls „Bürgertum in Deutschland“ nachzuschlagen und außerdem für diesen Blog den Beitrag „Anfänge“ verfaßt und dabei, wie das so geht, entstand die Idee, doch noch einmal genauer hinzuschauen und zu analysieren, wie die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in ausgewählten Texten dargestellt wird. Rezensionen zu Illies und Zweig gibt es auch im befreundeten Blog 54books.
Zweigs „Erinnerungen eines Europäers“, so der Untertitel der posthum 1944 erschienenen Schilderungen, stehen unter dem Eindruck des Verlusts. Das Habsburgerreich seiner Jugend – Zweig wurde 1881 geboren – existierte nicht mehr, Wien, die von den Nationalsozialisten zur deutschen Provinzstadt degradierte einstige Weltmetropole hatte er als Flüchtling verlassen müssen, und seine Bücher waren verbrannt worden. Dies erklärt den Blick auf die Welt von gestern, die er freilich nicht verklärt, sondern auf die Grundlagen für die nachfolgenden Katastrophen hin untersucht.
„Wenn ich versuche, für die Zeit vor dem Ersten Weltkriege, in der ich aufgewachsen bin, eine handliche Formel zu finden, so hoffe ich am prägnantesten zu sein, wenn ich sage, es war das goldene Zeitalter der Sicherheit. Alles in unserer fast tausendjährigen österreichischen Monarchie schien auf Dauer gegründet und der Staat selbst der oberste Garant dieser Beständigkeit.“ (Zweig, S. 14)
„Dieses Gefühl der Sicherheit war der erstrebenswerte Besitz von Millionen, das gemeinsame Lebensideal. Nur mit dieser Sicherheit galt das Leben als lebenswert, und immer weitere Kreise begehrten ihren Teil an diesem kostbaren Gut. Erst waren es nur die Besitzenden, die sich dieses Vorzugs erfreuten, allmählich aber drängten die breiten Massen heran; das Jahrhundert der Sicherheit wurde das goldene Zeitalter des Versicherungswesens.“ (Zweig, S. 14)
„Heute, da das große Gewitter sie längst zerschmettert hat, wissen wir endgültig, daß jene Welt der Sicherheit ein Traumschloß gewesen. Aber doch, meine Eltern haben darin gewohnt wie in einem steinernen Haus. Kein einziges Mal ist ein Sturm oder eine scharfe Zugluft in ihre warme, behagliche Existenz eingebrochen; freilich hatten sie noch einen besonderen Windschutz: sie waren vermögende Leute, die allmählich reich und sogar sehr reich wurden, und das polsterte in jenen Zeiten verläßlich Fenster und Wand. Ihre Lebensform scheint mir dermaßen typisch für das sogenannte ‚gute jüdische Bürgertum‘, das der Wiener Kultur so wesentliche Werte gegeben hat und zum Dank dafür völlig ausgerottet wurde, daß ich mit dem Bericht ihres gemächlichen und lautlosen Daseins eigentlich etwas Unpersönliches erzähle: so wie meine Eltern haben zehntausend oder zwanzigtausend Familien in Wien gelebt in jenem Jahrhundert der gesicherten Werte.“ (Zweig, S. 18f.)
Sicherheit, Unveränderlichkeit bei Vertrauen in den Fortschritt und der Gewißheit von Avancement und Aufstiegsmöglichkeiten, Klarheit – mit diesem Stichworten charakterisiert Zweig hier am Anfang und im gesamten Buch das 19. Jahrhundert.
Ähnlich haben es Theodor Fontane und Joseph Roth in ihren Romanen als Chronisten der Epoche beschrieben. Und diese Charakterisierung Zweigs reklamiert auch der Biograph Golo Manns, Urs Bitterli, für die Familie Mann und das im Jahre 1909 geborene dritte Kind. Zwar habe es in der damaligen Zeit zahlreiche Spannungen und Gegensätze gegeben, „[d]och in bürgerlicher Perspektive dominierte der Eindruck von Ordnung und Sicherheit.“ (Bitterli, S. 10)
„Aber gerade gegen das Wirken solcher Familienverbände und Familienverbindungen hatte sich ja die bürgerliche Bewegung des ausgehenden 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Nachdruck gewandt. Ständeübergreifend und individualistisch, ganz auf die Fähigkeit und Leistungen des einzelnen gegründet sollte die Gesellschaft der Zukunft sein. […] Das hat sich ohne Zweifel auch in der zweiten Hälfte des 19. und in unserem Jahrhundert fortgesetzt. Es blieb eine Epoche der sozialen Mobilität auch an der Spitze. Nichts wäre falscher, als die Momente der gesellschaftlichen Erstarrung über das Maß zu betonen und zu verallgemeinern. Aber daß sie in einem wachsenden Umfang vorhanden waren, ist doch ebenso unübersehbar.“
So heißt es bei Lothar Gall, Bürgertum in Deutschland, 1989, S. 401. Und Gall ergänzt an späterer Stelle:
„Eben dies [die Bindung an die eigentlich unbürgerliche innere Ordnung des wilhelminischen Reiches] war es, was Theodor Mommsen 1899 in tiefer Resignation den ‚Dienst im Gliede und den politischen Fetischismus‘ nannte, der es ihm und vielen Gleichgesinnten in dieser Nation nicht erlaubt habe, ein wirklicher ‚Bürger‘ zu sein. Das, was man hier jetzt ‚bürgerliche Gesellschaft‘ nannte, so hieß das, habe sich selbst gefesselt, habe alle Entwicklung, alle Gegenwart und Zukunft – wo ihre Vertreter über den Tag und die Stunde überhaupt hinausdachten – nur noch als Bedrohung, als Gefahr empfunden, nicht mehr als fruchtbare Herausforderung zu einer besseren, sinnerfüllten, dem Bild vom Menschen angemesseneren Gestaltung der Verhältnisse.“ (Gall, S. 441)
Dann, nach 1900, kommt es aus Zweigs Perspektive zu einer breiten Aufbruchsstimmung.
„Es ist vielleicht schwer, der Generation von heute, die in Katastrophen, Niederbrüchen und Krisen aufgewachsen ist, denen Krieg eine ständige Möglichkeit und eine fast tägliche Erwartung gewesen, wen Optimismus, das Weltvertrauen zu schildern, die uns junge Menschen seit jener Jahrhundertwende beseelten. Vierzig Jahre Frieden hatten den wirtschaftlichen Organismus der Länder gekräftigt, die Technik den Rhythmus des Lebens beschwingt, die wissenschaftlichen Entdeckungen den Geist jener Generation stolz gemacht; ein Aufschwung begann, der in allen Ländern Europas fast gleichmäßig zu fühlen war. Die Städte wurden schöner und volkreicher von Jahr zu Jahr, das Berlin von 1905 glich nicht mehr jenem, das ich 1901 gekannt, aus der Residenzstadt war eine Weltstadt geworden und war schon wieder großartig überholt von dem Berlin von 1910. Wien, Mailand, Paris, London, Amsterdam – wann immer man wiederkam, war man erstaunt und beglückt; breiter, prunkvoller wurden die Straßen, machtvoller die öffentlichen Bauten, luxuriöser und geschmackvoller die Geschäfte. Man spürte es an allen Dingen, wie der Reichtum wuchs und wie er sich verbreitete; selbst wir Schriftsteller merkten es an den Auflagen, die sich in dieser einen Spanne von zehn Jahren, verdreifachten, verfünffachten, verzehnfachten.“ (Zweig, S. 225f.)
Er fügt hinzu:
„Nie war Europa stärker, reicher, schöner, nie glaubte es inniger an eine noch bessere Zukunft […]“ (Zweig, S. 226)
Und dieser Zukunftsglaube begünstigte die Entdeckung der Jugend, des Sports. Bärte wurden abgenommen.
„Jungsein, Frischsein und nicht mehr Würdigtun wurde die Parole.“ (Zweig, S. 227)
Dies wird von der neueren Forschung bestätigt und mit einer bald einsetzenden Gegenbewegung zusammengebracht. Wolfgang Martynkewicz schreibt in seinem hochinteressanten, 2009 erschienenen Buch ‚Salon Deutschland, Geist und Macht 1900-1945‘:
„In allen Diskursen spiegelte sich um 1900 die Ambivalenz zwischen einem positiv empfundenen ‚Moderne-Gefühl‘, das sich im Bekenntnis zum Neuen ausdrückte, und der gleichzeitigen Suche nach einheitlichen und sinnstiftenden Formen des Lebens. Der geistige und künstlerische Aufbruch ging einher mit einem ausgeprägten Unbehagen an bestimmten Erscheinungen der Moderne – wie der Massenkultur, Demokratisierungsprozessen, fortschreitender Industrialisierung und der Spezialisierung der Wissenschaften; dieses Unbehagen zeigte sich besonders im Rückgriff auf vormodernes und sogar archaisches Denken. […] Nach den Aufbruchsjahren um 1900 hatte sich kurz vor dem Ersten Weltkrieg das Zeitgefühl dramatisch verändert, die Moderne wurde nun mehr und mehr als Bedrohungsszenario wahrgenommen, als ein Verlust an äußerer und innerer Wirklichkeit.“ (Martynkewicz, S. 17)
Zweig sieht eher ein Moment der den Staaten zu Kopfe steigenden Kraft, das unweigerlich auf den Krieg zusteuerte, der jedoch ein ums andere Mal dann doch ausblieb, so daß die gelegentlich spürbare Unruhe immer wieder vom weitverbreiteten Optimismus besiegt worden sei. (Zweig, S. 229ff.)
Aber ist es überraschend, wenn uns diese Welt vor dem Ersten Weltkrieg tatsächlich so fremd anmutet? Studenten des Jahres 2013 wirken schließlich mitunter baß erstaunt, wenn man von der deutschen Teilung spricht – wie sollte es da der Zeit von vor 100 Jahren anders ergehen? Immerhin noch 1960 schrieb Golo Mann in der Einleitung zum neunten, dem zwanzigsten Jahrhundert gewidmeten Band der Propyläen Weltgeschichte:
„Beim Lesen der hier versammelten Darstellungen werden wir oft den Eindruck einer anderen, einer pittoresken und fremden Welt haben; und auch, und selbst gleichzeitig, den Eindruck des Modernen, Aktuellen. Europas Könige und Kaiser, auf ihren Schlössern sich über ein Teilungs-Arrangement in Afrika unterhaltend, das waffenlose, isolierte Amerika der zwanziger Jahre – was für eine versunkene Welt. Aber der indische Revolutionär, der Schöpfer einer Massenproduktion von Automobilen, der Wiener Arzt, der die Geheimnisse desmenschlichen Unterbewußtseins ergründet – sie haben nachwirkende Kraft, sie haben Gegenwart.“ (Mann, S. 13f.)
Viele literarische Zeugnisse vermitteln ebenfalls diese Ambivalenz. Ob Thomas Manns ‚Buddenbrooks‘ (1901), Heinrich Manns ‚Professor Unrat‘ (1905) oder Robert Musils ‚Verwirrungen des Zöglings Törleß‘ (1906) – jedes dieser Bücher ist in seiner Zeit verhaftet und gleichwohl ragt es – dank moderner Elemente – hinein in unsere Zeit. Denn es ist die Zeit der sich verselbständigenden Apparate, wie Franz Kafka sie in ‚Der Prozeß‘ (1915, posthum 1925) beschrieben hat, der auch die Entfremdung thematisiert hat, siehe ‚Die Verwandlung‘ (1912, veröffentlicht 1915). Sigmund Freud, 1902 ‚huldvollst‘ vom Kaiser zum außerordentlichen Universitäts-Professor ernannt, untersuchte den Konflikt zwischen den bewußten Werten und dem unbewußten Verlangen, das zugunsten der Konvention unterdrückt, sich plötzlich Bahn brach – ‚Die Traumdeutung‘ (1899) beeinflußte zahlreiche Zeitgenossen wie Arthur Schnitzler und wirkte lange nach.
Philipp Blom resümiert 2009:
„15 Jahre waren seit der Weltausstellung 1900 vergangen, 15 Jahre, in denen sich die Welt sich radikal verändert hatte. Einige dieser Veränderungen – die wachsenden Schiffe, die Fabrikschornsteine, die Eisenbahngleise und die Schlachtschiffe – waren offensichtlich. Andere lagen unter der Oberfläche, griffen aber tief ins soziale und persönliche Gefüge ein. Der Erste Weltkrieg brachte sie ans Tageslicht und erschütterte die verbleibenden Strukturen der alten Ordnung. Die moderne Welt aber, die Welt in der wir immer noch leben, hatte sich schon herausgebildet, noch bevor der erste deutsche Soldat die belgische Grenze überschritt.“ (Blom, S. 459)
Das Zitat von Philipp Blom am Ende des Beitrags könnte sinngemäß auch für unsere heutige Zeit stehen, wenn wir uns überlegen, wie sie sich in den letzten 15 Jahren verändert hat…
Das stimmt, und deswegen ist diese Zeit uns auch noch so nahe.
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