Stärke, Leben, Literatur

Rabih Alameddine, Eine überflüssige Frau, 2013, dt. 2016 (Aus dem amerikanischen Englisch von Marion Hertle), 448 Seiten. Eine starke Frauengestalt blickt in diesem Buch auf ihr Leben im Libanon zurück, das vor allem der Literatur gewidmet war. Anders als Werthers Lotte, Anna Karenina oder Effi Briest hat sie – unter keineswegs einfachen Umständen – ihr Leben in die eigene Hand genommen und jahrzehntelang aktiv gestaltet.

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Porträt einer alten Frau, Ludwig Knaus zugeschrieben

Hintergrundinformationen

Das kleinformatige Buch liegt gut in der Hand, wozu Dicke und Gewicht, aber auch der Schutzumschlag aus griffigem Papier beitragen. Das Umschlagfoto zeigt eine regennasse Straße, eine Person mit Schirm, wohl eine Frauengestalt, und einen Spitzbogen, hinter dem sich eine erleuchtete Arkade erstreckt. Nicht nur deswegen paßt das Buch zu herbstlichen Lesenachmittagen. Mit ihm verlasse ich die Komfortzone meiner gewohnten Lektüre. Alameddine, der in Jordanien geboren wurde, wuchs in Kuwait, im Libanon und in England auf; er lebt heute in den USA und im Libanon. Seit 1998 veröffentlichte er bislang sechs englischsprachige Romane, die sowohl im Nahen Osten als auch in den USA angesiedelt sind. »Eine überflüssige Frau« ist der erste Roman, der ins Deutsche übersetzt wurde; für ihn erhielt er im Jahr 2014 den California Book Award.

 

Wie lautet der erste Satz des Romans?

Man könnte sagen, dass ich mit den Gedanken woanders war, als ich meine Haare blau wusch, und zwei Gläser Rotwein haben zu meiner Konzentration auch nicht gerade beigetragen.

 

Worum geht es in »Eine überflüssige Frau«?

Aaliya, die Protagonistin und Ich-Erzählerin, erzählt von ihrem Leben, den aktuellen Vorkommnissen – das Buch beginnt mit einem Mißgeschick beim Haarefärben –, ihrer Arbeit – sie war fünfzig Jahre lang Buchhändlerin und übersetzte siebenunddreißig Bücher ins Arabische – und ihren Erinnerungen an das wechselvolle Privatleben, die politische Situation in ihrem Heimatland und dann spricht sie voller Verbundenheit von Beirut und ihrer Freundin Hannah.

Der Autor und seine Protagonistin sind belesene Menschen, doch sie ist keine Stubenhockerin, die das Leben nur aus Büchern kennt. Aaliya ist eine unerschrockene Frau. Sie lebt seit ihrer frühen Scheidung allein und kinderlos in Beirut, greift notfalls zum Gewehr und lebt selbstbestimmt. Es sind einige der existentiellen Fragen des Lebens, die abgehandelt oder auch nur gestreift werden: Überleben, Alter(n), Familie, Freundschaft, Nachbarschaft, Tätigsein; wichtig ist auch das Entwickeln von Haltungen.

Siebenunddreißig Bücher hat sie übersetzt, doch keine Übersetzung ist je erschienen. Ein beeindruckendes Lebenswerk, von dem niemand weiß, etwas messie-mäßig – aber penibel abgestaubt – in der Wohnung untergebracht. Dieser Punkt gibt Anlaß für Überlegungen zur Notwendigkeit von Übersetzungen und der Herausforderung, die diese darstellen. Darunter findet sich dann diese etwas überraschende Passage:

Anstatt Garnett zu attackieren, hätte [Brodsky] auf die Menschen schimpfen sollen, die nicht russische, deutsche, arabische oder chinesische Autoren lesen, sondern nur deren verwestlichte Nachbildungen. (S. 163)

Aaliya liest viel und gern. Das Lesen guter Bücher eröffnet ihr andere Welten (S. 183f.). Selbständigkeit und Emanzipation durchschneiden freilich nicht die Familienbande, wie sie eindrücklich erlebt.

Ein wahrer Hexensabbat bildet zum Ende hin einen neuerlichen Höhepunkt des Geschehens, das von Vanitas nach Aufbruch umschwenkt.

 

Was ist das Besondere an diesem Buch?

Wir lauschen den Gedanken und Erinnerungen der Protagonistin, erleben ihre Sinneseindrücke und Gefühle, folgen ihrem Tun. Gespräche, Erlebnisse, Handlungen – alles wird aus ihrer Perspektive, als ihre Erinnerung  oder Einschätzung präsentiert. Der Fluß ihrer Rede, denn sie wendet sich den Lesern zu, erzählt ihnen – also uns – was geschehen ist, ist unerschöpflich. Diese formale Eindimensionalität führt nicht zu einer reduzierten Komplexität des Textes. Die vielfältigen literarischen Anspielungen schaffen zusätzliche Reflexionsräume, zum Beispiel beim Sex. Prägnante Zitate (nicht gerade wenige) folgen gelegentlich auf binsenhafte Poesiebuchweisheiten. Die Wechsel der Zeitebenen halten den Text im Fluß und verleihen ihm Tiefe.

Literatur, die alles erklärt, macht Leser dumm. (S. 152)

Als Frau entspricht sie – wie ihre Freundin Hannah, aus deren Tagebüchern sie gelegentlich erzählt – nicht den gesellschaftlichen Normen und Erwartungen, die an sie gerichtet wurden und werden. Leben und Haltung anderer Frauen aus ihrem Haus sind ihr teilweise recht fremd. Doch die Zeit, das Leben – und der Krieg – haben alle Frauen einander nähergebracht. Das Buch ist auch ein klassischer Bildungsroman, der ein reiches Leseleben umfaßt und auch durch den Erzählstrang, in dem die Protagonistin sich die klassische Musik erschließt, geprägt wird. Kann – und soll – Kunst im Leben der Menschen eine Rolle spielen, und wenn ja, welche?

Eine kurze Passage über Uhren und die Zeit (S. 208)  erinnert mich an den »Rosenkavalier«. Thomas Manns Tagebücher, reduziert auf die Verdauungspassagen, werden kritisiert (S. 229). Die Verwüstungen des Alters beschreibt die Protagonistin schonungslos (S. 394). Die Jungfräulichkeit von Autoren und Künstlern ist ein Thema, das sie immer wieder beschäftigt.

Keine Nostalgie empfindet man so leidenschaftlich wie Nostalgie nach Dingen, die es nie gab. (S. 287)

Hundertjährige Kriege wurden darüber geführt, ob Jesus ein Mensch in Gottesform oder ein Gott in Menschengestalt war. Glaube ist mörderisch. (S. 389)

Besonders interessant war für mich der Blick in den Libanon und nach Beirut, den ich durch die Augen von Aaliya tun konnte. Für den Karl-May-Leser gibt es das Orientbild, das maßgeblich von den ersten sechs Bänden der Gesamtausgabe geprägt ist. Band 3, »Von Bagdad nach Stambul«, spielt auch im Libanon. Auch die Lektüre von Agatha-Christie-Romanen vermittelt ein Bild des Nahen Ostens, doch beide Perspektiven sind natürlich jene des Orientalismus; sie benutzen einen vergangenen Exotismus und bedienen das europäische Überlegenheitsgefühl. Alameddine und seine Heldin bieten einen authentischen Blick, den sie mit der Verbindung zur westlichen Literatur und Musik für Leser wie mich anschlußfähig machen.

Andere Blogs haben das Buch bereits im Jahr 2016 vorgestellt, zum Beipiel:

masuko13

letteratura

 

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3 Antworten zu Stärke, Leben, Literatur

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